UntitledNick Sousanis

Harvard University Press, 196 Seiten, 18,99 € 
ISBN-10: 0674744438
ISBN-13: 978-0674744431

Im bekannten Buch „Flächenland“ von Edwin Abbott bekommt ein zweidimensionales Quadrat Besuch von einer dreidimensionalen Sphäre. Gemeinsam besuchen sie die dritte Dimension und zurück im Flächenland versucht das Quadrat fortan, seine zweidimensionalen Mitbewohner zu dieser für sie neuen Dimension zu bekehren. In seinem Buch „Unflattening“ unternimmt Nick Sousanis, Professor für Geisteswissenschaften an der Universität von San Francisco, einen ähnlichen Bekehrungsversuch. Jedoch geht es ihm nicht um eine von uns nicht wahrnehmbare vierte Dimension des Raumes (s. hierzu Graph Waldeyer, „The 4-D Doodler“). Vielmehr will Sousanis uns dazu bewegen, sowohl textuelles und über Worte getragenes Verständnis als auch bildliches Verstehen zu integrieren.

Neben der Geschichte des Quadrats aus dem „Flächenland“ dient das Prinzip der Parallaxe als ein zweiter roter Faden durch das Buch. Die Parallaxe bezeichnet den Winkel, der entsteht, wenn ein Objekt von zwei verschiedenen Standorten aus betrachtet wird. Zum Beispiel nutzen wir täglich Parallaxe, um aus der zweidimensionalen Wahrnehmung unserer beiden – leicht versetzten – Augen ein dreidimensionales Bild unserer Umgebung zu schaffen.

In seinem Buch schreibt Sousanis: „David Lewis calls Image-Text interaction a ‚double orientation‘ – a ‚looking in more than one direction at the same time‘.“ (S. 64) Dies ist für den Autor die Grundlage, auf derer er Text und Illustration zusammenbringen möchte, um aus diesen niedrigdimensionalen Wahrnehmungen analog zur Parallaxe eine höherdimensionale Wahrnehmung zu schaffen. Doch nicht nur das Betrachten von Bildern, auch das Schaffen von Illustrationen und Visualisierungen hat bereits seine Wichtigkeit und Berechtigung im Verständnisprozess. So schreibt Sousanis: „We draw not to transcribe ideas from our heads but to generate them in search of greater understanding.“ (S. 79) Diametral steht er somit den Überzeugungen des Mathematikerkollektivs entgegen, das unter dem Namen Nicolas Bourbaki publizierte und die Verdrängung von Bildern aus der Mathematik forderte.

Neben dem Bezug auf Abbotts „Flächenland“ ziehen sich mathematische Ideen durch das gesamte Buch. Das Auffalten eines Tetraeders in sein Netz dient dem Autor als Illustration für das Eröffnen neuer Perspektiven. (S. 43) Betrachtungen der Küstenlinie von Ithaka motiviert fraktale Konstruktion und die Idee, dass jedes genauere Hinsehen etwas Neues zu Tage fördert. So kann ein Kreis mit einer Folge aus regelmäßigen Polygonen immer besser approximiert werden, deren Ecken immer weiter „abrunden“. Andersherum entsteht aus einem Dreieck, das vollständig glatte Kanten hat, über mehrere Iterationen die Koch'sche Schneeglockenkurve, die nirgendwo mehr glatt ist. (S. 44) Weitere Anspielungen an Mathematik finden sich zum Beispiel in der Weltkarte von Buckminster Fuller – projiziert auf einen Ikosaeder (S. 57) oder in der Illustration einen vierdimensionalen Würfels. (S. 131)

Passend zu Sousanis' vehementer Unterstützung von Bildern und Illustrationen ist das 152 Seiten umfassende Buch als Graphic Novel erschienen. Es handelt sich um die Veröffentlichung der Dissertation, die Sousanis 2014 an der Columbia University, NYC, USA, einreichte. Einer wissenschaftlichen Publikation gemäß erläutern Endnoten die präsentierten Ideen weiter und erklären Hintergründe, die sich nicht direkt aus den Comiczeichnungen erschließen. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis lädt zum Weiterverfolgen der präsentierten Konzepte ein. Sousanis verwendet häufig wechselnde Zeichenstile und argumentiert mit Bild- und Textelementen von der Antike bis hinein in die moderne Unterhaltungskultur. Die Panels sind teilweise sehr kleinteilig und es entsteht der Eindruck, dass der Autor zu viel auf einer Seite unterbringen wollte. Dadurch fällt es mitunter schwer, den vermischten Konzepten und Theorien zu folgen. Dennoch bietet das Buch viel Stoff zum Nachdenken und lädt gerade wegen der Fülle an Bildideen zur Relektüre ein. In jedem Fall kommt Sousanis' Anliegen deutlich zum Ausdruck: Ohne Bilder geht es nicht.

 

Rezension: Elisabeth Schaber (Universität Leipzig) und Martin Skrodzki (Freie Universität Berlin)