Øystein Linnebo: Philosophy of Mathematics
Princeton University Press 2017, VI + 203 Seiten, 25,48 €
ISBN: 978-0-691-16140-2
Das vorliegende Buch ging aus Vorlesungen zur Philosophie der Mathematik hervor, die Øystein Linnebo an diversen Universitäten gehalten hat, und ist eine erste Einführung in das Thema. Der Autor setzt einen klaren Schwerpunkt auf den Entwicklungen rund um die Grundlagenkrise. Es gibt aber auch ein Einführungskapitel, in dem er einen Abriss der Positionen von Platon bis Kant gibt. Gegen Ende des Buches geht Linnebo auch auf aus seiner Sicht besonders interessante neuere Diskussionen ein.
Als Ausgangspunkt beschreibt der Autor drei Charakteristika von mathematischem Wissen, die den besonderen Status der Mathematik als Wissenschaft verdeutlichen: Es beruht auf keinerlei Erfahrung oder Experiment. Es ist zwangsläufig, das heisst, es gibt keine Alternativen. Es beschreibt Objekte, die abstrakt sind, also nicht in Raum oder Zeit verortbar. Der Umstand, dass man diese Charakteristika sonst eher religiösen Gewissheiten zuschreiben würde, zeigt deutlich den Bedarf an einer Philosophie der Mathematik, die sich mit dem Wesen mathematischer Gewissheiten beschäftigt. Linnebo diskutiert die drei Charakteristika und die Fragen, womit sich Mathematik überhaupt beschäftigt und wie wir zu unseren mathematischen Überzeugungen gelangen, vor allem anhand von Platon (427–347 v. Chr.) und Immanuel Kant (1724–1804), erwähnt diesem Kontext aber auch Empiriker wie John Stuart Mill (1806–1873).
Schon bei dieser Einführung gibt Linnebo einen Ausblick auf den Logizisten Gottlob Frege (1848–1925) und den Intuitionisten Luitzen Brouwer (1881–1966), deren Beiträge in den Kapiteln 2 und 5 ausführlicher geschildert werden. Dazwischen erklärt der Autor Versionen des Formalismus, in denen die Syntax gegenüber der Semantik in den Vordergrund gestellt wird, und David Hilberts (1862–1943) Programm zur Überwindung der mengentheoretischen Paradoxa. In diesem Kontext wird auch der Deduktivismus diskutiert, der die Reine Mathematik als die formale Ableitung von Aussagen aus beliebig gewählten Prämissen (Axiomen) sieht.
In Kapitel 6 geht der Autor näher auf die Außensicht der Mathematik durch die Philosophen John Stuart Mill und Willard Van Orman Quine (1908–2000) ein, die in der Mathematik auch empirische Aspekte sehen.
In der zweiten Hälfte des Buches wendet sich Linnebo mehr zeitgenössischen Debatten zu. In Kapitel 7 beschreibt er anhand der Überlegungen von Paul Bencerraf (*1931) und Hartry Fields (*1946) die Problematik, dass man keinen kausalen Zusammenhang zwischen mathematischem Wissen und abstrakten (also nicht mit Raum und Zeit interagierenden) mathematischen Objekten herstellen kann. Dies führt zur Zurückweisung der Existenz abstrakter Objekte im Nominalismus.
Wenn man, wie der Autor, keine kausale Beziehung zwischen mathematischer Einsicht und mathematischem Objekt fordert, bleibt die Frage nach der Evidenz mathematischen Wissens. Diese Frage spielt in den letzten Kapiteln des Buches eine zentrale Rolle. In Kapitel 8 greift Linnebo zunächst den Begriff der mathematischen Intuition neu auf und beschreibt verschiedene neuere Diskussionsbeiträge dazu. Kapitel 9 ist der Abstraktion gewidmet, die in der Praxis eine wichtige Quelle von mathematischer Evidenz ist. Linnebo beschreibt zunächst Freges Zugang zur Abstraktion über Äquivalenzrelationen und wie er zu den Russelschen Paradoxien führt. Dann erklärt er Neo-Fregesche und dynamische Zugänge, die diese logischen Probleme vermeiden.
Ausgehend vom iterativen Charakter der dynamischen Konzepte von Abstraktion wendet sich Linnebo in Kapitel 10 der Frage zu, in welcher Relation dynamische und iterative Konzeptualisierung mit den Zermelo-Fraenkel-Axiomen der Mengenlehre stehen. In diesem Kontext diskutiert er auch die Begriffe des aktual und potentiell Unendlichen.
Kapitel 11 ist dem auf Richard Dedekind (1831–1916) zurückgehenden Strukturalismus gewidmet, der in seiner extremsten Form sagt, dass mathematische Objekte außer ihrer Position innerhalb einer Struktur keinerlei Eigenschaften haben. Der Autor diskutiert verschiedene Varianten des Strukturalismus und geht in diesem Zusammenhang auch kurz auf die Kategorientheorie ein.
Im letzten Kapitel beschreibt Linnebo einige Fragen zur Axiomatik der Mengenlehre, die sich aus Kurt Gödels (1906–1978) Unvollständigkeitssätzen ergeben.
Ans Ende des Buches stellt der Autor abschließende Bemerkungen, in denen er nochmal Schüsselwörter nennt und auflistet, wie und wo sie in den unterschiedlichen Kapiteln wiederholt auftauchen: Abstraktion, Idealisierung, Berechnung, Extrapolation, Unendlichkeit. Außerdem erläutert er kurz seine persönliche Haltung zu den aufgeworfenen Fragen, insbesondere nach der Realität mathematischer Objekte und der Evidenz mathematischer Einsichten.
Øystein Linnebo beschreibt nicht nur historische Positionen zur Philosophie der Mathematik, sondern er motiviert die Fragen und spielt jeweils Argumente und Gegenargumente durch. So versetzt er den Leser in die Lage, einerseits selbst Position zu beziehen, andererseits aber auch die eigenen Positionen in Frage zu stellen. Das Buch ist anspruchsvolle und anregende Lektüre. Ich finde es ausgesprochen gelungen und nützlich.
Rezension: Joachim Hilgert (Uni Paderborn)
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, März 2019, Band 66, Seiten 127-129.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.