zur philosophie der mathematikAlexander George und Daniel J. Velleman: Zur Philosophie der Mathematik – Logizismus, Intuitionismus, Finitismus, Gödel’sche Unvollständigkeitssätze

Springer Spektrum, Wiesbaden, 2018, XI + 210 Seiten, 22,99 €
ISBN: 978-3-662-56236-9
E-Book / ISBN: 978-3-662-56237-6

Was geschieht, wenn wir endliche Wesen nach dem Unendlichen greifen? Diese Frage trifft ins Mark der Mathematik und wurde lange vor dem Auftreten der „Russellschen Antinomien“ von I. Kant analysiert. Paradoxien und Antinomien erschütterten die Cantorsche Mengenlehre und die Mathematik als Ganzes. Drei sich bekämpfende Strömungen, Logizismus, Intuitionismus und Finitismus (letztere eher bekannt als Formalismus oder Axiomatismus), rangen um ein sicheres Fundament für die Mathematik und Logik. Dieser „Grundlagenstreit“ der Mathematik gipfelte 1931/32 in den berühmten „Gödelschen Unvollständigkeitssätzen“ mit bis heute andauernden Forschungen.

Im Springer-Verlag erschien 2018 die exzellente Übersetzung des angloamerikanischen Fachbuchs „Zur Philosophie der Mathematik. Logizismus, Intuitionismus, Finitismus, Gödel’sche Unvollständigkeitssätze“, von dem die Übersetzer zu Recht anmerken, dass ein vergleichbares Buch in deutscher Sprache bisher fehlt. Zwei amerikanische Professoren der Mathematik und Philosophie am Amherst College konzipierten das Werk für ihre Studenten. Das deutschsprachige 200 Seiten umfassende Buch erfordert außer Bekanntschaft mit der Prädikatenlogik kein aufwendiges mathematisch-logisches Training und bietet eine verständliche Einführung in die axiomatische Mengenlehre.

Für wen ist dieses Buch wichtig? Mir bekannte deutschsprachige Fachbücher, konzipiert für theorieorientierte Mathematiker, Logiker, IT-Spezialisten und Philosophen, erfordern logisches und mengentheoretisches Fachwissen, insbesondere für die Forschungen von Kurt Gödel. Aber gerade applikationsorientierte Wissenschaftler sollten ermutigt werden, sich mit der Tragfähigkeit ihrer mathematischen Praxis zu beschäftigen. Hier bietet das Buch sowohl einen verständlichen Einstieg als auch fachliche Tiefe.

Kapitel 1 behandelt philosophische Positionen der Mathematik von Platon bis A. Einstein, dessen Zitat zugleich Thema des Buchs ist: „Wie ist es möglich, dass die Mathematik, die doch ein von aller Erfahrung unabhängiges Produkt des menschlichen Denkens ist, auf die Gegenstände der Wirklichkeit so vortrefflich passt?“.

Kapitel 2 „Logizismus“: behandelt die von G. Frege angestrebte Konstruktion der Arithmetik allein mit logischen und mengentheoretischen Bausteinen, sowie schließlich sein Scheitern durch die „Russellschen Antinomien“.

Kapitel 3 „Mengenlehre“: erläutert den Rettungsversuch des Logizismus durch B. Russell und A. N. Whitehead. Die längeren Ausführungen zur Zermelo-Fraenkel-Mengentheorie können beim ersten Lesen ohne Verständniseinbuße übersprungen werden.

Kapitel 4 „Intuitionismus“: konstruiert die Mathematik aus der intuitiven Anschauung der natürlichen Zahlen (unter Berufung auf I. Kant). MathematischeWahrheiten existieren nicht unabhängig von uns, sie müssen konstruiert werden. Das „Aktual Unendliche“ wird abgelehnt und damit logische Schlüsse wie der „Satz vom ausgeschlossenen Dritten“ und der „Widerspruchsbeweis“. Unter Einbezug der „Goldbach Vermutung“ und der „Primzahlzwillinge“ leitet das Kapitel unmerklich auf die Gödelschen Unvollständigkeitssätze über.

Kapitel 5 „Intuitionistische Mathematik“: erläutert das für klassische Mathematiker ungewohnte Arbeiten mit dem intuitionistischen Kalkül.

Kapitel 6 „Finitismus“: führt in das wichtige Hilbert-Programm ein. Dazu werden die aus der Linguistik geläufigen Begriffe Syntax und Semantik benötigt. (Der Ausdruck „Finitismus“ ist mehrdeutig, die deutsche Benennung „Formalismus“ oder „Axiomatismus“ erscheint geeigneter).

Kapitel 7 „Die Unvollständigkeitssätze“: erläutert deren Beweis von Kurt Gödel und ihre große theoretische und praktische Bedeutung. Danach kann es keine einzelne mathematische Theorie geben, aus der alle mathematischen Wahrheiten abgeleitet werden können.

Kapitel 8 „Schluss“: faßt Leistungen und Scheitern aller Strömungen zusammen. Nur der Intuitionismus bleibt von den Gödelschen Sätzen geschont, wird aber meistens von klassischen Mathematikern ignoriert. Spannend für den Praktiker dürfte sein zu erfahren, dass über die Art menschlicher Messungen der Intuitionismus verständlich werden könnte.

Zusammenfassend ist dieses Werk neben den Büchern von Dirk W. Hoffmann („Grenzen der Mathematik“ und „Die Gödelschen Unvollständigkeitssätze“, beide Springer Spektrum) das beste deutschsprachige Fachbuch über die Grundlagenkrise der Mathematik, das ich kenne.

Zuletzt noch eine (leicht zu behebende) Kritik: das Personen- und Sachregister fällt dürftig aus. Wichtige Begriffe fehlen, und viele Termini sind nicht am Ort ihrer Definition aufgeführt.

Rezension: Hartmut W. Mayer (Freising)

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, März 2019, Band 66, Seiten 123 -125.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.