nova stereometria dolorium vinariorumJohannes Kepler: Nova stereometria doliorum vinariorum/New solid geometry of wine barrels. Accessit Stereometriæ Archimedeæ supplementum / A supplement to the Archimedean solid geometry has been added Edited and translated, with an Introduction, by Eberhard Knobloch (Sciences et Savoirs).

Bibliothèque de science, tradition et savoirs humanistes 4).
Les Belles Lettres, Paris 2018, 348 S., 95 €
ISBN 978-2-251-44832-9
ISSN 0184-7155

 

Die im Jahre 1615 erschienene Nova stereometria doliorum vinariorum (Eine neue räumliche Geometrie der Weinfässer) von Johannes Kepler ist ein Klassiker der Mathematik. Auf der einen Seite stützte sich Kepler direkt auf die stereometrischen Arbeiten von Archimedes, in denen die praktische Mathematik der klassischen Antike ihren Höhepunkt erreichte. Auf der anderen Seite erlangte seine Schrift den Rang einer wegweisenden Vorarbeit zur Infinitesimalrechnung, dem einflussreichsten Teilgebiet der neuzeitlichen Mathematik. Wichtig ist außerdem der unmittelbare Bezug auf die Visierkunst mit ihren speziellen Methoden zur Fassmessung, die im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit entwickelt wurden und in der praktischen Mathematik dieser Epoche eine große Rolle spielten. Und nicht zuletzt ist es der anekdotische Aspekt, der Keplers Schrift interessant macht. Im Widmungsbrief an seine adeligen Gönner Maximilian von Liechtenstein und Helmhard Jörger beschrieb der Autor, wie er bei der Besorgung der Weinvorräte für die Feier seiner eigenen, zweiten Hochzeit die Arbeit der Weinmesser beobachtete. Aus der Verwunderung über die scheinbar simple, aber effektive Messmethode entsprang die Motivation für die Untersuchung. Keplers Fassmessung wird daher immer wieder gern als unterhaltsames Beispiel aus der Geschichte der Mathematik angeführt. Es besteht somit Grund genug für eine bibliophile Ausgabe in einer Buchreihe, die sich anschickt, herausragende Werke aus der Geschichte der Wissenschaften zu sammeln und in angemessener Gestalt zu präsentieren.

Der Originaltext und die Übersetzung ins Englische erscheinen im Paralleldruck. Die Einleitung enthält Abschnitte zur Biographie Keplers, zur Struktur der Abhandlung und zu ihrer Rezeption, sowie auf 25 Seiten einen inhaltlichen Kommentar. Alle Teile der Einleitung sind knapp gehalten und für den Leser in angenehmer Weise auf das Wesentliche beschränkt. Darüber hinaus ist der Text mit einem Glossar der lateinischen Begrifflichkeiten versehen und durch ein Namenverzeichnis erschlossen, in dem neben den antiken Vorbildern auch der eine oder andere explizite Bezug auf aktuelle Arbeiten seiner Zeitgenossen aufscheint.

Keplers Arbeit hatte unmittelbare Wirkung. Sie wurde von der Fachwelt sofort rezipiert und inhaltlich verarbeitet. Eine zweite Auflage erlebte sie nicht, denn als wegweisend wurden die Inhalte begriffen, nicht die Darstellung. So ist es zu verstehen, dass der außerordentliche Bekanntheitsgrad von Keplers Fassmessung, bis hin zur Verankerung der Keplerschen Fassregel in der Schulmathematik, in erster Linie die Ergebnisse und weniger die Schrift selber betrifft. Die wenigsten, die Keplers bahnbrechende Untersuchung kennen, werden sie gelesen haben. Es ist aber kaum von der Hand zu weisen, dass der Erfolg von Keplers Arbeit zu einem guten Teil auch seiner brillianten Darstellung geschuldet ist. Sowohl im Aufbau der Schrift als auch in den Feinheiten der Argumentation ist es die ausgewogene Mischung aus mathematischer Stringenz und Anschaulichkeit, die den Leser inspirieren musste und Keplers Fassmessung zu einem Meisterstück der mathematischen Literatur machte. Die einen oder anderen Fehler in den Argumentationen, und selbst in den Resultaten, wie sie von den Zeitgenossen registriert wurden, fielen letztlich nicht ins Gewicht.

Der Zweck einer Ausgabe, wie sie hier vorgelegt wurde, ist darin zu sehen, die Lektüre der Originalschrift einem breiteren Publikum ans Herz zu legen. Zwar wurde für den Gebrauch der Wissenschaftsgeschichte im Rahmen der Gesamtausgaben von Keplers Werken der Text noch zweimal gedruckt und kommentiert, 1863 durch Christian Frisch und 1960 durch Franz Hammer; 1908 erschien eine Teilübersetzung ins Deutsche von Rudolf Klug. Zu einer vollständigen Übersetzung in eine moderne Sprache war es aber bis dato nicht gekommen. Darin besteht die vorrangige Leistung dieser Edition. Die Wahl des Englischen ist hier die einzig richtige, weil es darum geht, eine internationale, an der Geschichte der Mathematik interessierte Leserschaft zu erreichen. An der Entscheidung des französischen Verlags, die englische Übersetzung dem deutschen Mathematikhistoriker anzuvertrauen, wird niemand Anstoß nehmen. Nach dem Eindruck des Rezensenten ist die Leichtigkeit von Keplers Fachprosa in der Übersetzung gut getroffen. Sie respektiert weitgehend die historische Begrifflichkeit und greift nur dort auf moderne Präzisierungen zurück, wo es im Sinne der Verständlichkeit angebracht ist.

Meiner Ansicht nach wären die Voraussetzungen ideal gewesen, den lateinischen Originaltext fotografisch zu reproduzieren. Der Neusatz in den Typen der Buchreihe schuf unnötige Druckfehler (Austriacin statt Austriaci auf dem Titelblatt S. 53, dimensinis statt dimensionis S. 57, parcs statt pares S. 59, tninus statt minus S. 209) und kleine Schwierigkeiten, deren Lösung eine klare Linie vermissen lässt. Einerseits ist das Bestreben erkennbar, die Typografie so originalgetreu wie möglich zu gestalten, auf dem Titelblatt bis hin zur Unterscheidung von langem s und rundem Schluss-s. Auf diese Unterscheidung wird aber im weiteren Text verzichtet, während die Verwendungsweise von i und j und die Setzung der Akzente exakt übernommen wurde. Der unterschiedliche Einsatz von u und v wurde bei Kleinbuchstaben der modernen Gepflogenheit angepasst (usu S. 57, universum S. 127), nicht jedoch bei Großbuchstaben (Vt S. 97, VSVS S. 305) und bei Kapitälchen (EVCLIDIS S. 195). Die et- und ae-Ligaturen, sowie das Kürzungszeichen q; für que wurden aufgelöst, nicht wahrgenommen wurde hingegen die Gelegenheit, Abkürzungen aufzulösen, mit denen mancher Leser vielleicht nicht vertraut sein wird (etwa GG.VV. für generositatis vestrae S. 59 oder sc. für scilicet S. 167). Die häufige Großschreibung wichtiger Begriffe wurde aus dem Originaldruck übernommen, während die Verwendung von Kapitälchen für Personennamen neu eingeführt wurde. Bei den Schemazeichnungen wurde überflüssiger Schmuck beseitigt. Der Neusatz hat freilich auch seine positiven Seiten, er erleichtert die parallele Einrichtung von Übersetzung und Original, sorgt durchgehend für ein einheitliches Erscheinungsbild und insgesamt für eine ruhigere Typografie.

Im ersten Teil der Abhandlung bot Kepler eine Darstellung dessen, was von Archimedes über die Vermessung der regelmäßig gewölbten Körper (Zylinder, Kegel und Kugel) überliefert war. Die Überlegungen gehen von Kreisumfang und Kreisfläche aus und führen zur Berechnung räumlicher Segmente von Zylinder, Kegel und Kugel. Die Verwendung der rationalen Näherung 22/7 für das Kreiszahlverhältnis ist als nachrangig zu betrachten, weil die wichtigen Ergebnisse von π unabhängig sind. Entscheidend ist die Heuristik, die Kepler in diesem Abschnitt entwickelte, um mit ihr im zweiten Teil der Abhandlung neue Erkenntnisse zu gewinnen. Es ist eine Heuristik der unendlich kleinen Teile, aus denen die Flächen und Körper im Geiste zusammengesetzt werden. In diesem zweiten Teil (Supplementum ad Archimedem) geht es um eine neue, umfangreiche Klasse von Körpern, die mit den Begriffen Zitrone, Apfel, Olive, Pflaume usw. anschaulich beschrieben und als Rotationskörper von Kegelschnitten mathematisch exakt charakterisiert und klassifiziert werden. Kepler schuf sich dieses Arsenal, um damit im dritten Teil der Abhandlung (Stereometria dolii Austriaci) die Gestalt des österreichischen Weinfasses möglichst genau modellieren zu können. In einem vierten Teil widmete sich Kepler konkreten Methoden der Volumenbestimmung mit und ohne Visierrute. Abschließend untersuchte er in diesem Abschnitt noch ein ungelöstes Problem in der Fassmessung seiner Zeit, bei dem es um die Bestimmung des Inhalts teilweise gefüllter, liegender Fässer ging.

Kepler war fasziniert von der Beobachtung, dass die Weinmesser sich allein durch die Messung der Diagonale des halben Fasses ein verlässliches Urteil über den Inhalt zutrauten. Es war tatsächlich weniger sein Ziel, dieses Verfahren in Frage zu stellen, als das Geheimnis dahinter zu lüften. Dies gelang ihm auf eine Art und Weise, die gleichzeitig einen Meilenstein in der Geschichte der Mathematik bedeutete. Daneben lieferte er erstmals die theoretischen Grundlagen für die Methoden der Fassmessung, die zu seiner Zeit schon längst etabliert waren.

Aus früherer Zeit ist nur ein einziger Versuch bekannt, die Methoden der Visierer aus mathematischer Sicht kritisch zu prüfen und theoretisch zu untermauern. Der Verfasser Peter von Jülich wirkte zwei Jahrhunderte vor Kepler als Magister an der Artistenfakultät der Universität Köln. Er begriff die Gestalt eines Weinfasses als Zusammensetzung zweier Kegelstümpfe. Unter dieser, aus moderner Sicht unzureichenden Annahme entwickelte Peter von Jülich im Rahmen der euklidischen Geometrie eine korrigierte Methode der Fassmessung mit Hilfe der Visierrute. Die Abhandlung ist allerdings nicht beachtet worden. Jetzt gerade ist der Text erstmals im Druck erschienen: Peter von Jülich, De modo mensurandi vasa. Ein Traktat zur Fassmessung aus dem frühen 15. Jahrhundert, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Menso Folkerts und Martin Hellmann (Algorismus 85, Dr. Erwin Rauner Verlag, Augsburg 2018).

Wie Peter von Jülich benutzte auch Kepler die Begrifflichkeiten der traditionellen Proportionenlehre, so dass etwa unter dem Doppelten eines gegebenen Verhältnisses (lat. dupla proportio) dessen Quadrat (engl. square) und unter dem Dreifachen (lat. tripla proportio) dessen dritte Potenz (engl. cubic ratio) zu verstehen ist. Die Verständnisschwierigkeiten, die sich daraus ergeben könnten, sind durch die moderne Ausdrucksweise in der Übersetzung elegant gelöst. Das Glossar gibt einen guten Einblick in Keplers Fach- und Spezialvokabular. Nicht fehlen dürften allerdings cossa (S. 289, Algebra) und cossista (S. 291/293, Vertreter der zeitgenössischen Algebra, der sogenannten Coß) als einschlägige und erklärungsbedürftige Jargonwörter. Bei manchem interessanten Wort, wie zum Beispiel Keplers Wortschöpfung cubiscus (Würfelchen), hätte sich der Rezensent die Stellenangabe gewünscht.

Kritik konnte hier allenfalls an Kleinigkeiten geübt werden. Das Buch ist ein kostbares Geschenk des in der Mathematikgeschichte hochverdienten Emeritus, das die herausragende Bedeutung von Keplers Fassmessung in der Geschichte der Wissenschaft unterstreicht.

Rezension: Martin Hellmann (Wertheim am Main)

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, März 2019, Band 66, Seiten 119-122.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags