anwendungsorientiert - verständlich - kompakt
Springer Spektrum; Auflage: 1. Aufl. 2018 (23. November 2017), 188 Seiten, Softcover: 19,99 €, eBook: 14,99 €
ISBN-10: 978-3-662-55738-9
ISBN-10: 978-3-662-55739-6
Ein Einstieg – insbesondere ein bedachter, gegebenenfalls auch ein schneller – soll zum Verweilen einladen. Das richtet sich nicht nur an jene, an die sich das Buch gemäß Ankündigung des Verlages wendet (Seite VI), nämlich
„… an ein breites Spektrum von Interessierten:
- angefangen bei mathematisch-naturwissenschaftlich motivierten Schülern gegen Ende der Sekundarstufe II (Gymnasien, Kantonsschulen)
- über Studierende an Fachhochschulen und Universitäten mit den Ausrichtungen Ingenieur- und Naturwissenschaften, Ökonomie
- und Dozierende an Pädagogischen Hochschulen als Beitrag zur Fachdidaktik
- bis hin zu Studierenden von Mathematik und Physik in den ersten Semestern,
welche ohne Umschweife das Thema anwendungsbezogen angehen wollen.“
Dementsprechend bewirbt der Verlag das Buch im Internet:
„Diese kompakte Einführung in die gewöhnlichen Differentialgleichungen und ihre Anwendungen richtet sich an alle, die in ihrem Studium freiwillig oder unfreiwillig mit diesem vielseitigen Thema konfrontiert werden. Zahlreiche Beispiele aus Physik, Technik, Biomathematik, Kosmologie, Ökonomie und Optimierung ermöglichen einen raschen und motivierenden Zugang – auf abstrakte Beweise und unnötigen Formalismus wird hierbei weitestgehend verzichtet. […] Eine Vielzahl an Übungen inklusive Lösungen rundet das Werk ab.“
Das vollständige Zitat ist hier zu lesen.
Das Vorwort und das Inhaltsverzeichnis (PDF) sind im Internet „frei“ erreichbar und geben weitere nützliche Hinweise zum Buch: Dadurch wird auch deutlich, dass der Schatz an hier angeführten Beispielen auch „herkömmliche“ Vorlesungen über Differentialgleichungen anreichern kann.
Aus dem Vorwort sei noch eine charakteristische Passage [S. V] zitiert:
„Für viele Studierende, die nicht gerade Mathematik als Hauptfach betreiben, ist das [gemeint sind besondere technische Kenntnisse; RS] in einer Zeit, in dem schon Taschenrechner symbolisch integrieren können, ein unnötig gewordenes Ärgernis, das den Zugang zum Thema entscheidend erschweren kann.
Hier wird hingegen bei aufwendigeren Problemen mit Nachdruck Wert darauf gelegt, die Richtigkeit von vorgegebenen Lösungen durch Differenzieren und Einsetzen nachzuweisen.“
Den derart formulierten Anspruch versucht der Autor einzulösen. Einen ersten Eindruck dazu geben die Kapitelüberschriften:
1 Benötigte analytische Vorkenntnisse
2 Differentialgleichungen 1. Ordnung
3 Anwendungen 1. Ordnung
4 Differentialgleichungen 2. Ordnung und Systeme mit Anwendungen
5 Numerische Verfahren mit Anwendungen
Lösungen
Auf einer Seite der Deutschen National Bibliothek ist das ausführliche Inhaltsverzeichnis zugänglich.
Die Kapitelüberschriften deuten schon den inneren Aufbau des Textes an; viel aufschlussreicher sind jedoch die in den Zwischenüberschriften erwähnten und teilweise sehr ausführlich behandelten Anwendungsbeispiele. Sie werden fast alle im vierseitigen Index (PDF) aufgelistet.
Einige der Anwendungen seien angeführt:
Mehrere Varianten der barometrischen Höhenformel
Coriolis-Kraft in der Meteorologie
Einstein-De-Sitter-Modell
Fallschirmabsprung
Flugbahnen eines Tennisballs
Friedmann-Lemaître-Gleichung
Keplersche Gesetze
Meteoritenbahnen
Olbers-Paradoxon
Perihelwanderung
Satellitenbahnen
Turiner Grabtuch
Urknall
Eine Besprechung des Buches (PDF) ist auch zu lesen im Band 138 (September 2018) des Bulletins des Vereins Schweizerischer Mathematik- und Physiklehrkräfte erschienen und dort auf den Seiten 50-51 zu erreichen.
Die Besprechung von Daniela Grawehr schließt mit den Sätzen „Die selbst gemachte Vorgabe von Fässler, den Fokus beim Thema Differentialgleichungen weg von den Lösungsverfahren und hin zum Modellieren zu setzen, finde ich äusserst gelungen umgesetzt. Meiner Ansicht nach sollte dieses Buch in die Bibliothek jeder Mathematiklehrperson gehören.“
Wer dem Springer-Verlag bzw. dem Verein Schweizerischer Mathematik- und Physiklehrkräfte wohl gesonnen ist, möge sich nun diesem Urteil anschließen.
Wenn eine geneigte Leserin dann im Besitz des Buches ist, wird sie beispielsweise erstaunt sein etwa über die Modellierungen beim Verdunsten von Regentropfen oder die Berechnung erdnaher Satellitenbahnen. Gemäß Seite 62 beträgt die Lebensdauer des Regentropfens drei Stunden. Herr Fässler formuliert seine Kritik der Modellierung der Satellitenbahn auf Seite 151: „Die Bahn befindet sich nicht immer außerhalb der Erde. Die Anfangsbedingungen müssen entsprechend geändert werden.“
Realitätsnaher ist auch jenes Beispiel nicht, bei dem vier Hunde (perfekt dressiert) in einem Quadrat brav hintereinander her laufen.
„Das Hundeproblem: „In jeder Ecke eines Quadrates startet ein Hund gemäß Figur. Dabei rennt jeder immer in der momentanen Richtung des vor ihm rennenden Hundes.
Es geht darum, ihre Bahnen zu analysieren.“ (S.114)
Die Analyse liefert eine ansprechende Grafik (S. 116).
Ein Hinweis auf den „Bericht No. 95-06 vom Dezember 1995 über „Verfolgungsprobleme“ von G. Schierscher an der ETH Zürich stellt informatives Material (PDF) leicht zur Verfügung.
Zum Beispiel könnte Realitätsnähe auch erreicht werden durch die Modellierung des doch öfters passierenden angstbesetzten Vorgangs, bei dem eine Hündin einer Fahrradfahrerin hinterherhetzt.
Schön ausführlich werden Bahnen von Meteoriten insbesondere des sog. Neuschwanstein-Meteoriten (S. 154 ff.) behandelt: Dieses Thema zeigt sowohl das Interesse des Autors an Astronomie als auch schön, dass bekanntermaßen Differentialgleichungen in der Physik eine wichtige Rolle spielen. So werden auch die Keplerschen Gesetze mit Hilfe von Differentialgleichungen hergeleitet (S. 123-128).
Zum Neuschwanstein-Meteroiten wird im Buch ein längerer Text (1387 Zeichen) aus Spielgel Online (8. Mai 2003) direkt übernommen. Hier ist einer der wirklich ganz seltenen Druckfehler in dem Buch; seiner schönen Mehrdeutigkeit wegen sei es gestattet, ihn abzudrucken.
Nicht verschwiegen werden darf eine Beobachtung auf die eklatanten Einflüsse von Google und den bei Firefox benutzen Algorithmen. Als die eben erwähnte Seite bei Spiegel-Online erstmals vom Rezensenten aufgerufen wurde, erschien zwischen dem Text viermal Reklame für das hier besprochene Buch und in einer Anzeige des Springer-Verlages mit 16 Titeln waren die ersten drei: „Die Keplersche Vermutung“ von Szpiro, das hier besprochene Buch von Fässler und dann das Standardwerk von Braun über Differentialgleichungen.
Zu den Grafiken: Die meisten sind wohl mit Mathematica erstellt. Wie würde das Lektorat des Springer-Verlags reagieren, wenn ein Autor ein Manuskript einreicht, bei dem längere Formeln nur handschriftlich eingetragen sind? Ließe man das so in Druck gehen? Bei Grafiken wird Ähnliches aber akzeptiert und den LeserInnen zugemutet.
Wie auf Seite 142 der E-Book-Version durch Anklicken zweier Grafiken erkennbar ist, sind die ursprünglichen Versionen mit handschriftlich ergänzten Achsenbeschriftungen wohl eingescannt und auf diese Scans dann „gedruckte“ Beschriftungen platziert und die so ergänzten Grafiken in die Druckdateien integriert worden. Leider erkennt ein geübtes Auge diese Manipulation, da ein leichter Hintergrundschleier zu erkennen ist. Ja: Es macht manchmal einige Mühe Mathematica-Grafiken mit wohlpositionierten Achsenbeschriftungen zu erstellen!
Schließlich noch einige Bemerkungen zu mathematischen Formulierungen:
Wer entsprechend dem Vorwort „auf abstrakte Beweise und unnötigen Formalismus […] weitestgehend verzichtet“, sollte doch die Bezeichnungen für Funktionen und Funktionswerte konsequent unterscheiden: So wird auf Seite 55 zuerst eine „zeitabhängige Größe f(t)“ betrachtet, drei Zeilen später ist von der Funktion f die Rede, zwei Zeilen später wandelt sich f in eine Größe und wiederum zwei Zeilen später ändert sich die Größe f(t).
Wer sich auskennt, kann über diese – wenn auch nicht besonders komplizierten – Unterschiede hinwegsehen; „bei mathematisch-naturwissenschaftlich motivierten Schülern gegen Ende der Sekundarstufe II“ (Vorwort S. VI) sollte jedoch Sorgfalt walten.
Ähnliches gilt bei der Definition der Lösung einer Differentialgleichung.
Das Literaturverzeichnis enthält einen Abschnitt „Internet“ mit vier Links. Das ist erweiterungsfähig und könnte schon hypertextartig in die Texte der einzelnen Kapitel eingefügt werden. Andere Bücher von Springer Spektrum bieten solche Möglichkeiten.
Dazu eine kleine Auffälligkeit am Rande, nämlich der letzten Zeile des Literaturverzeichnisses: Beim Lektorat war man wohl schon müde: In der so gedruckten Zeile 32 https://de.https://de.wikipedia.org/wiki/Brüsselator, Zugegriffen: Juni 2017. hätte zumindest der triviale Fehler zu Beginn der Zeile auffallen müssen; dass dann aber bei copy and paste das ü zu "u wird und damit auch der Link unerreichbar wird, fällt erst beim konkreten Versuch auf: https://de.https://de.wikipedia.org/wiki/Br¨usselator, Zugegriffen: Juni 2017.
Rezension: Ralf Schaper (Uni Kassel)