der untergang der Mathemagika

Dunkle Zahlen
Roman

Matthias Senkel

Matthes & Seitz Berlin; 24,00 €

ISBN-13: 978-3-95757-539-5

Im Jahr 1985 findet die „Internationale Spartakiade junger Programmierer“ in Moskau statt. Zu diesem Wettkampf sind Teams aus allen sozialistischen Staaten nach Russland gekommen. Zur Unterstützung der kubanischen Auswahl reist Mireya Fuentes in die russische Hauptstadt, um dort zu übersetzen. Doch das mittelamerikanische Team ist nicht vor Ort und Mireya begibt sich auf eine Spurensuche durch Moskau.
So beginnt einer der zahlreichen Handlungsstränge in Matthias Senkels Roman „Dunkle Zahlen“, der für sich den Begriff „Poem“reklamiert. Lyrik ist jedoch nur eine von vielen Textformen, mit denen der Autor spielt, denn er vermischt seine prosaischen Passagen mit allerlei anderen Formaten: Ein Eintrag aus einer Enzyklopädie klärt über die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs der „dunklen Zahl“ auf. Ein wissenschaftlicher Artikel und ein Screenshot einer Seite aus der Wikipedia stellen den russischen Dichter Gawriil Jefimowitsch Teterevkin vor, während die Kapitel zum Agenten mit Decknamen „Dupont“ eher die Mitschrift eines Computerspiels darstellen – inklusive „Game Over“ am Ende.

Ähnlich zahlreich wie die verwendeten Textgattungen sind auch die unterschiedlichen Erzählstränge. Neben der Geschichte rund um die kubanische Auswahl werden die Lebenswege der Hauptverantwortlichen bei der Spartakiade beschrieben. Die Leserinnen und Leser verfolgen wie sich die Werdegänge des Nationaltrainers der sowjetischen Auswahl, Leonid Michailowitsch Ptuschkow, einer Mitarbeiterin des KGB, Jewhenija Arsenjewna Swetljatschenko, und des Leiters des Programmierwettbewerbs, Dmitri Frolowitsch Sowakow, schon vor der Spartakiade 1985 wiederholt kreuzen und trennen.

Für einen Überblick über die vielen eingeführten Figuren und deren für deutsche Leserinnen und Leser ungewohnten russischen Namen ist spätestens nach dem zweiten Kapitel das Personenregister hilfreich. Dieses ist mit einem dunklen Lochkartenmotiv am Seitenrand versehen, sodass es sich jederzeit leicht finden lässt. Ähnlich nützlich ist das Verzeichnis von Abkürzungen, die im gesamten „Poem“ allgegenwärtig sind. Während sich ES als „einheitliches System“ noch gut merken lässt, ist GRU GSch WS CCCP1 schon einen Blick in das Register wert. Wie gut die Abkürzungen von der Leserschaft erlernt wurden und wie aufmerksam gelesen wurde lässt sich in einem Kreuzworträtsel prüfen, das Begriffe aus dem Text aufgreift. Diese entstammen teils wunderbar skurrilen Unterhaltungen, wie der Begriff für Waagerecht 2: Plutonische Gesteinsformation.2

Durch diese Sammlung an Erzählsträngen, Figuren und Textgattungen zieht sich ein roter Faden, der beim Dichter Teterevkin beginnt. Er nimmt die Idee der universalen Rechenmaschine von Charles Babbage und Ada Lovelace auf und wendet das Konzept auf Literatur an. Teterevkins Ziel: Die Entwicklung einer Golemartigen Literaturmaschine (GLM), die eine textuelle Beschreibung der gesamten Gegenwart liefert. Hier klingt Leibniz' Postulat an, die Zukunft aus einem aktuellen Zustand des Universums berechnen zu können. Ausgehend von der Idee der GLM beschäftigen sich alle Protagonistinnen und Protagonisten mehr oder weniger stark mit der beginnenden Digitalisierung unterschiedlichster Lebensbereiche.

Der Roman beantwortet nicht alle Fragen, die er stellt. Es ist streckenweise nicht einmal klar, welche Frage überhaupt gestellt wird. Aber genau das macht den Reiz aus. Auf atmosphärisch dichte Weise zeichnet Matthias Senkel ein fantasievolles und unterhaltsames Bild von der Entwicklung der Informatik in der Sowjetunion. Diese selten erzählte Geschichte hat vornehmlich – wie im Westen auch – Mathematikerinnen und Mathematiker als Heldinnen und Helden, die Pionierarbeit in der angewandten Mathematik und Numerik leisteten. Den großen Umfang dieser beginnenden digitalen Revolution und die hohe Anzahl von betroffenen Lebensbereichen arbeitet Senkel sehr anschaulich heraus. Das „Poem“ endet – seiner kreativen Verwendung von literarischen Gattungen treu bleibend – mit einem Comic ohne Bilder. Nach der Lektüre bleibt viel Stoff zum Spekulieren, Nachlesen und Diskutieren, aber auch ein spannender Einblick in den Beginn der Informatik auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs.

Rezension: Elisabeth Schaber und Martin Skrodzki

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1Hauptverwaltung für Aufklärung beim Generalstab der Streitkräfte der UdSSR.
2Antwort: Lakkolith.