der beweis des jahrhundertsMasha Gessen
Suhrkamp Verlag; Auflage: 3 (17. Juni 2013), 22,95 €
ISBN-10: 3518423703
ISBN-13: 978-3518423707

Im Jahre 1904 stellte der französische Mathematiker Henri Poincaré eine Vermutung über dreidimensionale Mannigfaltigkeiten auf, die seither seinen Namen trägt. Was diese Vermutung genau besagt, soll hier außen vor bleiben. Eine sehr grobe Vereinfachung wäre „Was wie eine Sphäre aussieht, ist auch eine Sphäre“; eine mathematisch präzise Fassung enthielte unter anderem die Vokabeln „einfach zusammenhängend“, „geschlossene 3-Mannigfaltigkeit“ und „homöomorph“. Diese Vokabeln können Mathematikstudenten im 2. Studienjahr kennen lernen; daher ist die Formulierung der Poincaré-Vermutung vergleichsweise elementar. Ganz und gar nicht elementar ist ihr Beweis, um den sich fast 100 Jahre lang die besten Mathematiker vergebens bemüht hatten. Masha Gessen erzählt die Geschichte des Mannes, der diesen Beweis schließlich im Jahr 2002 gefunden hat.

Dieser Mann ist Grigori (Grischa bzw. Grisha) Perelman aus St. Petersburg (vormals Leningrad), einer von der Sorte Mathematiker, die man getrost als genial, aber auch exzentrisch bezeichnen kann. Was jeden biographischen Versuch im Fall Perelman schwierig macht, ist die Tatsache, dass er seit 2006 praktisch jeden Kontakt zur Außenwelt (und insbesondere zu Journalisten) eingestellt hat, so dass die Autorin einzig auf Informationen zweiter Hand angewiesen war und ihre Schlussfolgerungen oft spekulativ sind. Masha Gessen beschreibt sehr eindringlich das Umfeld, in dem Perelman mathematisch aufwuchs, und wie sein Talent gefördert wurde: im Matheklub für Höchstbegabte in Leningrad und in der mathematischen Spezialschule, wie er zum Goldmedaillengewinner bei der Internationalen Mathematik-Olympiade wurde, wie einzig und allein diese Tatsache es dem jüdischen Schüler Perelman in der stark antisemitisch geprägten Sowjetunion ermöglichte, sich in der Leningrader Universität (neben der Moskauer der besten des Landes) einzuschreiben, und wie er schließlich mit seiner Dissertation erstes Aufsehen erregte. Natürlich kommt auch die Bedeutung der Mathematik in der totalitären sowjetischen Gesellschaft zur Sprache („die Mathematik steht so ziemlich für alles, was in der Sowjetunion verpönt war“, Seite 16), das mathematische Establishment und die Freigeister, Kolmogorows Rolle für die mathematische Pädagogik und vieles mehr.

Dieses sind für mein Empfinden die stärksten Teile des Buchs, wo die Autorin auch eigene Erfahrungen einbringen kann, denn sie war selbst Schülerin einer mathematischen Spezialschule, bis sie mit ihren Eltern in die USA auswanderte. All diese Dinge mögen Anlass sein, ein Buch zu schreiben, aber sie erklären noch nicht das Interesse an der Person Perelman. Hier kommen noch verschiedene Umstände hinzu, die ihn zu einem Thema für die Presse von der Bild-Zeitung („der bärtige Russen-Professor“) bis zum New Yorker („Manifold Destiny“) gemacht haben. Da ist zunächst einmal seine Jahrhundertleistung, ein derart fundamentales und schwieriges Problem gelöst zu haben wie die Poincaré-Vermutung, aber mehr noch die Umstände: Perelman hat seine Lösung nämlich nicht in einem detaillierten Aufsatz in einer Fachzeitschrift publiziert, sondern nur drei Manuskripte auf den von vielen Mathematikern genutzten Preprint-Server arXiv.org hochgeladen, die später von anderen ausführlich ausgearbeitet wurden.

Der zweite Teil von Gessens Buch berichtet von dieser Phase, darüber, wie Perelman die Fields-Medaille (die höchste Auszeichnung, die ein Mathematiker erhalten kann) zugesprochen bekam und ablehnte, wie sich viele Mathematiker an die Verifikation des Perelman-Programms machten (auch solche, die sich wohlprotegiert mit diesen fremden Federn selbst schmücken wollten), wie er sich mehr und mehr aus der Mathematikerwelt zurückzog und schließlich seine Stelle im Steklow-Institut in St. Petersburg kündigte (und seither offenbar als bescheidener Privatier lebt), wie er den mit 1 Million Dollar dotierten Millenniums-Preis der Clay-Stiftung zuerkannt bekam (und ablehnte, aber das geschah erst nach Veröffentlichung der englischen Originalausgabe dieses Buchs).

Über Perelmans Motive kann man nur spekulieren, wobei die Autorin am Ende wohl deutlich übers Ziel hinausschießt; im 10. Kapitel breitet sie den Lesern nämlich alle Evidenz dafür aus, dass Perelman am Asperger-Syndrom, einer Form von Autismus, leidet. Dass sie sich formal von dieser einzigen Konsequenz ihrer Ausführungen distanziert, wirkt auf mich wenig überzeugend (Seite 255). Nun wird im Buch hinlänglich belegt, dass Perelman wirklich ein schwieriger, aber auch sensibler Charakter ist; diese Kombination führt zu Reaktionen, die als grob und verletzend empfunden werden. Viele Kommentatoren betonen jedoch seine Ehrlichkeit, zum Beispiel der berühmte Geometer Gromow: „Er hat moralische Grundsätze, an die er sich hält. Und das überrascht viele.“

Allerdings ist Perelmans Verhalten für Außenstehende kaum nachzuvollziehen: Wer sonst würde sich beleidigt fühlen, wenn ihr oder ihm die Princeton University eine Professur zunächst auf Zeit anbieten würde (wie es in der amerikanischen Universitätslaufbahn üblich ist)? Seine Welt scheint von derselben Rigorosität beherrscht zu sein, die in mathematischen Beweisen verlangt wird, im Alltagsleben aber manchmal hinderlich ist. Dem trägt der Titel der Originalausgabe „Perfect Rigor“ Rechnung, während der deutsche Titel „Der Beweis des Jahrhunderts“ eher eine mathematischtechnische Abhandlung erwarten lässt. Diese gibt es aber eigentlich nur am Rande, und das Poincarésche Problem (geschweige denn seine Lösung) ist auch wirklich schwer zu beschreiben; interessierte Leser mögen zu George Szpiros „Das Poincaré-Abenteuer“ oder Donal O’Sheas „Poincarés Vermutung“ greifen wollen. Hinzu kommt, dass die Poincaré-Vermutung nur ein Spezialfall der Perelmanschen Theorie ist, die sogar die viel allgemeinere „Geometrisierungsvermutung“ von Thurston beweist.

Die Versuche der Autorin, auf die Mathematik einzugehen, fand ich im Detail nicht durchgehend gelungen. Die angebliche Umschreibung des Begriffs einer glatten Mannigfaltigkeit weist wohl eher auf eine orientierbare hin, und die umgangssprachliche Erklärung eines angeblichen Diffeomorphismus trifft in Wirklichkeit auf einen Homöomorphismus zu (Seite 204); diese Details sind für viele Leser jedoch unerheblich. Der Übersetzer hat recht gute Arbeit geleistet; ich habe nur wenige Schnitzer vom Kaliber „fixierte Punkte“ statt „Fixpunkte“ gefunden. Was die Autorin mit „a sort of uniform boundary“ meint, habe ich zwar auch nicht verstanden, „eine Art einförmige Grenze“ (Seite 212) ist es aber gewiss nicht.

Masha Gessens Buch über Grigori Perelman liefert eine faszinierende Sicht auf die mathematischen Kultur und Subkultur in der Sowjetunion und in Russland und ist der Versuch einer Annäherung an eine unnahbare Persönlichkeit.

Rezension: Dirk Werner (FU Berlin)