Lizhen Ji und Athanase Papadopoulos (Hrsg.):
European Mathematical Society 2015, XVIII + 330 Seiten, 48 €
ISBN: 978-3-03719-148-4
Felix Klein (1849–1925) ist den meisten Mathematiklehrern als Autor mathematikdidaktischer Schriften bekannt. Fachmathematiker und Physiker kennen ihn vor allem als die treibende Kraft hinter dem Aufstieg Göttingens zu einem weltweit führenden Zentrum der Mathematik und Physik sowie als Autor des Erlanger Programms. Dagegen ist der Name des norwegischen Mathematikers Sophus Lie (1842–1899) nur Spezialisten geläufig und von seiner Rolle in Genese und Etablierung des Erlanger Programms wissen die wenigsten.
Das Erlanger Programm ist eine Schrift, die Felix Klein 1872 anläßlich seiner Berufung zum Professor an die Universität Erlangen unter dem Titel Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen vorgelegt hat. Klein propagiert darin einen Paradigmenwechsel in der Geometrie, deren primäre Objekte nun nicht länger Punktkonfigurationen sondern deren Symmetrie-Eigenschaften sein sollten. In moderner Sprache könnte man es grob folgendermaßen formulieren: Eine geometrische Theorie ist eine Gruppenwirkung auf einer Punktmenge, zusammen mit allen aus der Punktmenge abgeleiteten Größen, auf die sich die Gruppenwirkung in natürlicher Weise fortsetzen lässt. Geometrische Objekte sind dann die Fixpunkte unter diesen fortgesetzten Wirkungen. In der klassischen euklidischen Geometrie betrachtet man zum Beispiel die Bewegungsgruppe der euklidischen Ebene mit ihrer Wirkung auf dieser Ebene. Geometrische Objekte sind dann zum Beispiel die Metrik oder Kongruenzklassen von Dreiecken. In der sphärischen Geometrie betrachtet man die Wirkung der Gruppe der orthogonalen Transformationen auf der Einheitssphäre in \({\mathbb{R}^3}\)und als geometrische Größen findet man zum Beispiel den geodätischen Abstand zweier Punkte.
Felix Klein hat sein Programm formuliert kurz nachdem er gezeigt hatte, wie man sphärische, euklidische und nichteuklidische Geometrie in einheitlicher Art und Weise mithilfe der projektischen Geometrie beschreiben kann. In diesen Beschreibungen spielten die Symmetriegruppen eine wichtige Rolle. Es handelt sich dabei um Gruppen, die durch „kontinuierliche“ Parameter (zum Beispiel Rotationsachsen und Drehwinkel) beschrieben werden. Genau solche Gruppen hat Sophus Lie studiert (und sie tragen heute seinen Namen: Lie-Gruppen oder Liesche Gruppen). Klein hatte Lie 1869 in Berlin kennengelernt und es folgte eine Phase intensiven wissenschaftlichen Austausches und gemeinsamer Aktivitäten.
Das Erlanger Programm stieß anfangs auf wenig Interesse und man kann spekulieren, dass auch die zweite Veröffentlichung im Jahr 1893 ohne die zwischenzeitlichen Fortschritte Lies in seiner Theorie der kontinuierlichen Transformationsgruppen weitgehend wirkungslos geblieben wäre. Klein weist in einer Fußnote zu dieser Veröffentlichung auf Lies Arbeiten hin. In den Augen Lies war damit sein Beitrag auch zur Genese der ersten Fassung des Programms nicht ausreichend gewürdigt, und er kündigte Klein die Freundschaft auf.
Das vorliegende Buch beleuchtet nicht nur diese mathematikhistorisch interessanten Vorgänge und ihre Hintergründe. Es enthält auch einige Beiträge, die belegen, dass Varianten der dem Erlanger Programm zugrundeliegenden Ideen noch heute Wirkung in der mathematischen und physikalischen Forschung entfalten.
Allerdings sind die Anforderungen an das mathematische Wissen der Leser bei einem Teil der Beträge doch sehr hoch. An ein allgemeines Publikum richten sich vor allem die Biographien Sophus Lie, a giant in mathematics (L. Ji) und Felix Klein: his life and mathematics (L. Ji) sowie die historisch angelegten Kapitel Klein and the Erlangen Programme (J. Gray) und On Klein’s “So-called Non-Euclidean geometry” (N. A’Campo, A. Papadopoulos).
Vergleichsweise elementar gehalten sind noch der Beitrag Transitional geometry (N. A’Campo, A. Papadopoulos), in dem die Autoren die euklidische Geometrie als einen natürlichen Übergang in einer durch die Krümmung parametrisierten kontinuierlichen Familie von sphärischen und nicht-euklidischen Geometrien beschreiben, sowie der kurze Artikel On the projective geometry of constant curvature spaces (A. Papadopoulos, S. Yamada).
Dagegen erfordern die (sehr interessanten) Übersichtsbeiträge What are symmetries of PDE’s and what are PDEs themselves (A. Vinogradov) zur Rolle von Symmetrien in der Theorie partieller Differentialgleichungen, Transformation groups in non-Riemannian geometry (Ch. Frances) und The Erlangen program and discrete differential geometry (Y. Suris) substantielle Kenntnisse in Differentialgeometrie um die beschriebenen Fakten einordnen zu können. Zumindest die Einleitungen dieser drei Kapitel sind aber an ein allgemeines Publikum gerichtet.
Von den drei der Physik gewidmeten Kapiteln sind Klein’s „Erlanger Programm“: do traces of it exist in physical theories? (H. Goenner) und Invariances in physics and group theory (J.-B. Zuber) recht abstrakt gehalten und damit auch für Nichtspezialisten aufschlussreich. Der Beitrag Three dimensional gravity – an application of Felix Klein’s ideas in physics (C. Meusburger) richtet sich dagegen jenseits der Einleitung an Spezialisten. Alle drei Artikel liefern Argumente dafür, dass man die Ideen von Klein und Lie auch in der modernen theoretischen Physik wieder finden kann, wenn auch in zum Teil stark modifizierter Form.
Den Herausgebern, die zum Teil ja auch selbst als Autoren fungieren, ist eine Zusammenstellung von Artikeln gelungen, die sowohl einem allgemeinen Publikum als auch aktiven Forschern Interessantes zu einem klassischen, aber heute noch aktuellem Thema bietet.
Rezension: Joachim Hilgert (Uni Paderborn)
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Oktober 2019, Band 66, S. 247–249
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags