David Rowe
Verlag: Springer; Auflage: 1st ed. 2018 (20. März 2018), 480 Seiten (Hardcover)
Hardcover: 102,07 €, Taschenbuch: 144,61 €, Kindle: 71,45 €
Sprache: Englisch
ISBN-10: 3319678183
ISBN-13: 978-3319678184
Dieses Buch ist eine Sammlung von Essays zur Geschichte der Mathematik, die David Rowe (em. Professor für Geschichte der Naturwissenschaften an der Universität Mainz) für den „Mathematical Intelligencer“ zwischen 1984 (No. 31) und 2015 (No. 2 und No. 28) geschrieben hat. Der Anlass für diese von M. Senechal, der langjährigen Herausgeberin des „Intelligencer“, initiierte Publikation war Davids Rücktritt vom Lehramt – wie man früher gesagt hätte – im Jahr 2016. Im selben Jahr und zum selben Anlass organisierte sein Nachfolger Tilman Sauer in Mainz ein großes Kolloquium mit dem Titel „A richer picture of mathematics“, das dem Buch seinen Namen gab. Die Essays des Buches richten sich nach Konzeption der Zeitschrift an ein allgemeines, mathematisch interessiertes Publikum; sie vermeiden deshalb technische Entwicklungen und wurden unverändert übernommen, sowohl im Inhalt als auch im Layout. Im Buch bilden sie sechs Gruppen, von denen jede eine längere, für die Neuveröffentlichung eigens verfasste informative Einleitung aufweist. Die Themen dieser Gruppen sind: „Die rivalisierenden Zentren Berlin und Göttingen“, „Der junge Felix Klein“, „David Hilbert betritt die Szene“, „Mathematik und die Revolution der Relativitätstheorie“, „Göttingen in der Ära von Hilbert und Courant“ sowie „Leute und Erbschaften“ (das Original „People and Legacies“ klingt natürlich viel schöner). Um Missverständnissen vorzubeugen: Das Buch ist komplett in Englisch geschrieben; seinen Stil und seinen Wortwitz kann man nur bewundern. Es gelingt sogar, viele Verweise und Zitate zur deutschen Geschichte und Kultur adäquat ins Englische zu übertragen – eine keineswegs einfache Aufgabe. Ergänzt werden die 29 Essays durch einen Artikel von David Rowe aus den „Mathematischen Semesterberichten“ über materielle mathematische Modelle bei Plücker, Klein und Kummer, einen über die Klein – Poincaré Korrespondenz in Sachen automorphe Funktionen, der für die Festschrift „Amphora“ (1992) geschrieben wurde, und persönliche Erinnerungen von Joe Dauben an den Mathematikhistoriker Dirk Struik, erschienen im „Mathematical Intelligencer“. Struik taucht übrigens an vielen Stellen des Buches auf, sei es als Differentialgeometer in jungen Jahren, sei es als Mathematikhistoriker – interviewt von David Rowe (No. 32).
Bevor wir uns dem Inhalt des Buches zuwenden, könnten wir uns die Frage stellen „Was meint hier überhaupt der Komparativ reicher“? Nun, der Rezensent denkt, dass damit gemeint ist, die Essays von Rowe enthalten viele Details und leuchten viele Aspekte aus, die in den meisten anderen Darstellungen der Mathematikgeschichte kaum Beachtung finden. Oder, wie im Vorwort zu lesen: Mathematik wird betrachtet im breiten Kontext menschlichen Handelns. Dies wiederum hängt mit seinem Interesse für „Communities“ zusammen, also für die Zusammenarbeit – gelegentlich aber auch: Feindschaft – zwischen Mathematikerinnen und Mathematikern, für ihr Teamwork, für ihre Seilschaften und ihre Netzwerke. Informationen hierzu findet man selten in offiziellen Publikationen, eher schon in Briefen, Aufzeichnungen und Würdigungen, auch persönliche Gespräche insbesondere Interviews kommen in Betracht. Es ist erstaunlich, wieviel unbekanntes Material – vor allem aus Archiven, insbesondere demjenigen in Göttingen – in dem vorliegenden Band zu finden sind. Das gilt nicht nur für Aussagen im Text sondern auch für Fotografien und Abbildungen. Die reiche Bebilderung macht eine Stärke dieses Bandes aus; nicht erstaunlich ist es folglich, dass mathematische Modelle – im Sinne der zweiten Hälfte des 19. Jhs. als materielle Objekte – mehrfach ausführlich vorkommen (vgl. 8, 35). Diese visuelle Stärke deutet sich schon auf dem Umschlag an, der Fotografien zeigt mit einigen der Hauptpersonen von „Richer Picture“: gleich zweimal sehen wir David Hilbert, einmal sogar im Vordergrund Hermann Minkowski, schließlich Adolf Hurwitz und den jungen Albert Einstein, nicht als Physiker sondern als Geigenspieler – einer Tätigkeit, der er als Student durchaus mit Erfolg in Zürichs feiner Gesellschaft nachging. Auch Frauen sind vertreten – meist als Familienmitglieder wie die Frau Hilberts und die Tochter von Hurwitz. Nebenbei erfährt man im Buch übrigens auch etwas über Hilbert und seinen Sohn Franz, aber auch über Albert Einstein und dessen Sohn Eduard, genannt Tete. Das Fazit hierzu könnte lauten: Große Wissenschaftler sind nicht unbedingt gute Väter, eine Qualität, die Hurwitz und Minkowski wohl Freund David voraushatten. Eine Mathematikerin ist auf dem Umschlag zu sehen; wer das ist, mag die Leserin oder der Leser selbst herausfinden. Um es vorwegzunehmen, Mathematikerinnen kommen in Rowes Essays prominent vor, z. B. Sonja Kowalewskaja (No. 10), Emmy Noether (u. a. Einleitung zu Teil IV) und Alicia Boole-Stott (No. 35). Mit einem sanft-heroisch anmutenden Medaillon schließlich ist Alfred Clebsch auf dem Cover vertreten, Felix Kleins Mentor und wichtiger, auch kämpferischer Promotor der Berlin kritischen Bewegung.
Der Reichtum, den der Titel andeutet, bezieht sich natürlich auch auf die Einbettung in politische und gesellschaftliche Zusammenhänge sowie auf kulturelle Hintergründe. Als Belege seien die vielfältigen Ausführungen zum Thema „Antisemitismus“ genannt – etwa als Karrierehindernis im Falle von Adolf Hurwitz (No. 14) – im Kontext von Gründerzeit und Gründerkrise, massiv verstärkt dann im Nationalsozialismus, und die Ausführungen zum Hegelianismus im Zusammenhang mit Felix Kleins Ehefrau, einer Enkelin des preußischen Staatsphilosophen, aber auch mit Eduard E. Kummers Akademie-Rede (No. 6). Musik kommt immer wieder vor, am Beispiel von Dirichlets Frau Rebecka, einer Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdy und Freundin von Clara und Robert Schumann sowie Johannes Brahms. Der Hausherr soll allerdings wenig Interesse gezeigt haben an der bei ihm aufgeführten Hausmusik – trotz hervorragender Besetzung. Diese Liste interessanter Themen ließe sich fast beliebig verlängern, sie drückt ein wesentliches Merkmal der Essays aus. Eine Besonderheit sei noch erwähnt, die (vielleicht wenig überraschende) gute Kenntnis des Autors der Geschichte der Mathematik in den USA. Immer wieder erfahren die Leserin und der Leser interessante Dinge aus diesem Kontext – angefangen von Felix Kleins USA-Reise mit dem bekannten Evanston-Kolloquium und der Modellausstellung über die rasche Aufnahme und den intensiven Ausbau von Hilberts Axiomatik (in der sogenannten „postulational analysis“ [No. 34]) bis hin zu den Europareisen der jungen US-Mathematiker G.D. Birkhoff und O. Veblen und Berichten darüber. Eine interessante, von R. Siegmund- Schultze entdeckte Fundsache ist G. D. Birkhoffs Karte der mathematischen Zentren in Europa (p. 398). Ausführlich gewürdigt wird ein Kolloquium in Princeton (1946), einer der Versuche, die Zukunft der mathematischen Forschung zu erkunden (No. 37) – natürlich zu verstehen vor dem Hintergrund von Hilberts Pariser Problemen, die an mehreren Stellen des Buches diskutiert werden (z. B. No. 15), auch wieder im Kontext, diesmal dem Briefwechsel mit Minkowski.
Die wichtigste Rolle in Rowes Essays kommt der Göttinger Community in den Jahren 1885 (Berufung Kleins nach Göttingen) bis 1933 (Zerschlagung der mathematischen Tradition durch die Nationalsozialisten, Weggang Weyls) mit unterschiedlicher personeller Besetzung zu: Von Klein, der sich in gewolltem Kontrast zur Berliner Schule in die von ihm forcierte Tradition von Gauß, Dirichlet, Riemann und Clebsch stellte, und seinen Bemühungen, Göttingens Mathematik durch geschickte Berufungen (etwa von Hurwitz [gescheitert]) aufzuwerten, über das viel zitierte Dioskurenpaar Hilbert – Klein, das für kurze Zeit (1902–1908) von Minkowski ergänzt wurde, hin zu Hilbert und Courant, umgeben von einer stetig wachsenden Zahl von Schülern aus In- und Ausland. Unter letzteren spielt in „Richer picture“ Hermann Weyl, der zögerliche aber fotogene Revolutionär (vgl. Foto p. 340), eine herausragende Rolle, nicht zuletzt wegen seiner zeitweisen Sympathie für Brouwers Intuitionismus (vgl. No. 27), aber auch wegen seines Interesses und seiner Beiträge zur Relativitätstheorie, Thema des umfangreichen Kapitels IV und Ausdruck einer Göttinger Spezialität, der damals ungewöhnlichen engen Verschränkung von reiner und angewandter Mathematik. Damit sind wir bei einer weiteren zentralen Person der „Richer picture“ angelangt, Albert Einstein nämlich. Mit Brouwers Intuitionismus wurde ein Thema angesprochen, das in „Richer picture“ an vielen Stellen zur Sprache kommt. Das gilt insbesondere für Brouwers Verhältnis zu Göttingen, vor allem zu Hilbert, das sich von großer Wertschätzung seitens des letzteren (u. a. wurde Brouwer die Nachfolge Landaus in Göttingen angeboten) bis hin zu persönlicher Feindschaft (Ausschluss Brouwers aus der Redaktion der „Mathematischen Annalen“) entwickelte. Auch hier spielten Hintergründe, diesmal vor allem politische, eine Rolle: Der Gegensatz von Hilberts Internationalismus und Brouwers strammem (deutschen!) Nationalismus, zum Ausbruch gekommen in der Auseinandersetzung um die deutsche Teilnahme am Internationalen Mathematikerkongress in Bologna 1928. Eine andere Schiene, die im Buch mehrfach aufgegriffen wird, ist die Geschichtsschreibung der Mathematik selbst, beispielhaft sind hier die Namen O. Neugebauer (No. 29) und Dirk Struik (No. 32, 38) zu nennen.
Es kann und soll hier nicht der Versuch gemacht werden, alle in diesem überreichen Buch angesprochenen Themen zu referieren. Die Leserinnen und Leser mögen sich selbst davon ein Bild machen. Dabei ist es keineswegs nötig, das Buch von vorn nach hinten durchzulesen, man kann vielmehr beliebig springen, was vielleicht sogar den Unterhaltungswert erhöht. Denn „Richer picture“ bietet etwas, was selten ist: Belehrung, die zugleich unterhaltsam ist, und das in meisterhafter Form dargeboten. Neben klassisch geschriebenen Essays findet man auch Rätsel (No. 2, 23), Interviews (No. 32) und Artikel, die auf persönlichen Gesprächen und Erinnerungen beruhen (No. 31, 36). Der Kenntnisreichtum des Autors ist bewundernswert und sein Stil eindrücklich. Um dies zu unterstreichen möchte ich zum Schluss noch zwei Beispiele ergänzen: Zum einen die spannende Geschichte der Familien Boole und Everest (p. 416), insbesondere ihrer Frauen, zum andern die Geschichte um die Herkunft des legendären Schachweltmeisters Bobby Fischers (pp. 430–431). Beide verknüpfen geschickt Mathematik- mit Zeitgeschichte und liefern so ein wahrhaft reicheres Bild derselben.
Dieses Lesevergnügen kann ich allen Interessierten bestens empfehlen.
Rezension: Klaus Volkert (Uni Wuppertal)
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, März 2020, Band 67, S. 99-102.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags