calculus recordedDavid M. Bressoud

Princeton University Press 2019, XVI + 221 Seiten, 24,99 €
Sprache: Englisch
ISBN: 978-0-691-18131-8

David Bressoud unterrichtet Mathematik am Macalester College in St. Paul Minnesota. Insbesondere kennt er die Unterrichtspraxis für das Fach Calculus an amerikanischen Universitäten sehr genau. Der Titel Calculus Reordered – A History of the Big Ideas ist ein Versprechen. Es geht Bressoud darum zu erklären, dass „Calculus“ sich nicht in mechanistischen Flächen- und Volumensberechnungen erschöpft und die Ableitung mehr ist als die Steigung einer Tangente. Er zieht aus seinen Überlegungen auch Schlüsse für die Lehrpraxis, denen er einen Anhang „Reflections on the Teaching of Calculus“ gewidmet hat.

Bressouds Ansatz ist es Schlüsselideen in der Entwicklung der Infinitesimalrechnung historisch einzuordnen und damit für den durch die gängige Lehrpraxis geprägten Leser besser sichtbar zu machen. Sein „Reordering“ besteht darin, diese Schlüsselideen in der historischen Reihenfolge vorzustellen. Dementsprechend fängt er mit der Integration an. Er wählt den Namen „Accumulation“ für Integration um deutlich zu machen, dass es ganz allgemein um die Aufsummierung infinitesimaler Bestandteile geht, nicht nur um Flächen und Volumina. Er beginnt mit Archimedes und beschreibt diverse Beiträge zur Berechnung von Flächen, Volumina und Drehmomenten auch aus der islamischen Phase und dem 17. Jahrhundert in Westeuropa (Cavalieri, Toricelli, Fermat). Er geht aber auch ausführlich auf die Entdeckung des Konzepts einer Momentangeschwindigkeit und die Methode zurückgelegte Wege aus Geschwindigkeit zu berechnen ein (Rektifizierung von Kurven). Das führt ihn zur Himmelsmechanik, Galileo, Huygens, Kepler und Newton.

Auch für die Differentiation wählt Bressoud einen alternativen Namen: „Ratios of Change“. Er betont dabei, dass Astronomen mit Änderungsraten gearbeitet haben lange bevor man Steigungen von Tangenten berechnet hat. Er geht dabei insbesondere auf die Abhängigkeit von Kreissekanten vom Winkel ein und somit auf die Entwicklung der Winkelfunktionen (Hipparchus, Aryabhata). Ein anderes Beispiel für die frühe Untersuchung von Änderungsraten ist die Erfindung von Logarithmen durch Napier Anfang des 17. Jahrhunderts, die ausdrücklich dem Ziel diente Multiplikationen in Additionen umzuwandeln. Das dritte Beispiel ist die Analytische Geometrie, die im 17. Jahrhundert als Synthese der indisch-arabischen Algebra und der griechischen Geometrie entstand (Descartes, Fermat) und auf schon modern anmutende Probleme wie die Bestimmung von Extrema und Tangenten gekrümmter Kurven führte. Bressoud geht dann auf weitere Wegbereiter für Newton und Leibniz ein, die sich mit der Arithmetik infinitesimaler Änderungsraten beschäftigten (Wallis, Gregory, Huygens). Als zentrale Leistung von Newton und Leibniz sieht Bressoud deren Herausstellung des Hauptsatzes der Differential- und Integralrechnung als Brücke zwischen Differentiation und Integration.

Die letzten Abschnitte des Kapitels über Änderungsraten sind den Weiterentwicklungen der Differentialrechnung hin zu den Differentialgleichungen (gewöhnlich und partiell) gewidmet. Sie werden anhand einiger Beispielprobleme von zentralen Akteuren wie den Bernoullis, Euler, Laplace und schließlich Maxwell beschrieben. Begrifflich geht der Autor hier nur auf die Entwicklung des Funktionsbegriffs, insbesondere in Eulers Lehrbüchern, näher ein.

Die letzten drei Kapitel des Buches entfernen sich vom Thema „Calculus“ als Kalkül und bewegen sich in Richtung Analysis. Für den im deutschen Lehrbetrieb ausgebildeten Mathematiker sind die Betonungen, die der Autor hier in seiner Namensgebung setzt, wenig überraschend: Das dritte Kapitel des Buches ist unendlichen Reihen mit Schwerpunkt auf Taylorreihen gewidmet und mit „Sequences of Partial Sums“ überschrieben. Im Zentrum des vierten Kapitels, das mit „The Algebra of Inequalities“ überschrieben ist, steht die Epsilontik. In diesem Kapitel wird das Ringen um mathematische Strenge im 19. Jahrhundert thematisiert, insbesondere die Beiträge Cauchys. Unter anderem geht es um den Zwischenwertsatz, in dessen Umfeld die Bedeutung der Stetigkeit erkannt wurde. Das letzte Kapitel heißt einfach „Analysis“ und greift einige isolierte Themen auf, wie die Integrierbarkeit von Funktionen, Gegenbeispiele zum Hauptsatz, Elliptische Funktionen oder die Cantor- Mengen.

Der Anhang zur Unterrichtspraxis im Fach „Calculus“ ist letztlich ein Plädoyer dafür, dieses Fach so zu unterrichten, dass es anschlussfähig für Folgeveranstaltungen zum Thema Analysis ist. Im deutschen Lehrkontext ist dies vor allem für die Gestaltung des Analysisunterrichts in der gymnasialen Oberstufe von Interesse. Die Betonung der Inhalte hat sich hier in den letzten Jahrzehnten eher in die umgekehrte Richtung, weg von der Analysis, hin zum mechanistischen Kalkül verschoben.

Bressouds Buch ist keine umfassende Geschichte der Infinitesimalrechnung. Historisch interessierte Leser, die zum Beispiel mit „Analysis by its History“ von Ernst Hairer und Gerhard Wanner vertraut sind, erfahren hier nicht viel Neues. Aber sein Ansatz Schlüsselideen des Gebiets in ihrer Entstehungsgeschichte zu beschreiben, die mit bestimmten Personen und von ihnen studierten Problemen zusammenhängen, bietet jedem Leser eine interessante Perspektive. Er regt dazu an, über die Genese eines im Lehrbetrieb oft genug statisch, ja erstarrt, wirkenden Themas nachzudenken. Ich wünsche dem Buch eine breite Leserschaft in Schule und Universität.

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Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, 2020, Band 67, Seiten 297–299.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Rezension: Joachim Hilgert (Paderborn)