der laplacesche daemonWolfgang Tschirk

Springer; 1. Aufl. 2020 Edition (29. September 2020), 218 Seiten, 29,99 €

ISBN-10: 3662616467
ISBN-13: 978-3662616468

Als pensionierter Gymnasiallehrer habe ich mich nach dem Studium nur selten mit Differentialgleichungen beschäftigt. Daher war ich unsicher, ob ich mir eine Rezension zutrauen (zumuten) sollte. Diese Zweifel waren schon nach wenigen Seiten verflogen: Dieses Buch gefällt mir so außerordentlich, dass ich mich trotz fehlender Kenntnisse manch behandelter physikalischer Sachverhalte entschlossen habe, diese Buchbesprechung zu verfassen.

Im ersten Teil werden die für Anwendungen wichtigen Typen von Differentialgleichungen mit den passenden Lösungsverfahren zusammengestellt – aber nicht theoretisch abgehandelt, sondern in jedem Fall an Beispielen aus der Physik hergeleitet. Das geht los mit den einfachen Gesetzmäßigkeiten des radioaktiven Zerfalls, der Fallbeschleunigung und Newtons Gesetz zum Wärmeausgleich. Freie und erzwungene, gedämpfte und ungedämpfte Schwingungen, der elektrische Schwingkreis und die schwingende Saite, die zur Wellengleichung führt, runden diesen Überblick ab. Stets werden die Gleichungen gelöst, und zwar Schritt für Schritt ohne Auslassung von Zwischenergebnissen, Anfangsbedingungen eingearbeitet und die verschiedenen Fälle inhaltlich diskutiert. So war es mir ohne große Schwierigkeiten möglich, alle Überlegungen und Rechnungen nachzuvollziehen. Da brauchte ich auch nur selten im Anhang nachzulesen, wo der Autor auf 16 Seiten die für seine Beispiele notwendigen Lösungsverfahren noch einmal systematisch zusammengestellt hat.

In weiteren vier Kapiteln – entsprechen den im Untertitel genannten Themen – zeigt Wolfgang Tschirk, wie Differentialgleichungen die gesamte Naturwissenschaft durchziehen. Um einen Eindruck von dieser Rundumschau zu vermitteln, will ich einen – längst nicht kompletten – Blick über seine Themen geben.

„Die Welt im Großen“ beginnt mit den Keplerschen Gesetzen und führt über Newton zu Einsteins Feldgleichungen, einschließlich des Tensor-Kalküls. Weiter werden die Begriffe Fluchtgeschwindigkeit, Schwarze Löcher und das Alter des Universums thematisiert. Aber der Autor kann nicht nur Gleichungen einleuchtend herleiten und lösen, sondern er beschreibt z. B. auch höchst anschaulich, welche Gedankenexperimente Einstein zur speziellen Relativitätstheorie geführt haben. Solch knappe, aber sehr klare Darlegungen auch zur historischen Entwicklung mancher Begriffe sind sehr lesenswert.

Im Abschnitt „Bilder der Natur“ werden u. a. die Fourier-Reihen für Wärmeleitung und die Maxwell-Gleichungen thematisiert. Aber auch biologische Prozesse wie Räuber-Beute-Systeme und Fragen der Fitness und Selektion werden auf Differentialgleichungen zurückgeführt.

Im Kapitel „Mensch“ geht es quasi querbeet durch verschiedene Disziplinen. Mit dem Lernen und Vergessen geht es los, über die Verbreitung von Infektionskrankheiten (SIR-Modell) und Fragen des Verkehrsflusses führt der Verfasser hin zu den Grenzen des Wachstums, wie sie der Club of Rome 1972 erstmals veröffentlicht hat.

Schließlich bringt der Autor in der „Welt im Kleinen“ Beispiele aus der Quantenphysik, die Radiokarbon-Datierung, die Schrödinger-Gleichung bis hin zu Schrödingers Abhandlung „Was ist Leben?“.

Tschirk schließt das Buch mit folgenden Sätzen: „… ist auch Entschuldigung für das vorliegende Buch angebracht, enthält es doch Gedanken zu vielen Themen, die sein Autor nicht beherrscht. Ich bitte um Nachsicht von Seiten derer, die sie beherrschen, und möchte einen mildernden Umstand anführen: Das alles Verbindende, die Differentialgleichungen – die sind entstanden, weil sich ein Naturphilosoph und ein Diplomat in Dinge eingemischt haben, die sie nichts angingen.“ (Und damit sind Newton und Leibniz gemeint.)

Und auch der Rezensent muss bekennen, dass er von manchen physikalischen Grundlagen, die zu den Differentialgleichungen führen, keine Kenntnisse hat, aber von der Darstellung überzeugt und begeistert ist. „Die Macht und Schönheit der Differentialgleichungen“ kann man in diesem Buch in der Tat erleben.

Rezension: Hartmut Weber (Kassel)