alles wird zahlThomas de Padova

Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG; 3. Edition (19. April 2021); 384 Seiten; 25 €

ISBN-10: ‎3446269320
ISBN-13: ‎978-3446269323

„Alles wird Zahl“ – ein Blick auf die letzten 40 Jahre bestätigt diese Aussage: Wie sehr hat doch die Digitalisierung, haben PC, Internet, Smartphone und Soziale Medien unsere Welt verändert – und die Grundlage dafür ist der Binärcode, sind 0 und 1. Alles, auch Texte, Bilder und Videos sind zu Zahl geworden.

In früheren Zeiten – so schien es mir – haben solche gewaltigen Veränderungen sich doch sehr viel langsamer vollzogen. Aber stimmt das? Ich staunte beim Lesen dieses Buches von Seite zu Seite mehr, wie schnell sich vor 500 Jahren durch Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern eine technische Revolution vollzogen hat, die auch die Entwicklung der Mathematik stark beschleunigt hat. Thomas de Padova, dem Autor dieses Buches, gelingt es in faszinierender Weise zu zeigen, wie die Mathematik sich im westlichen Europa aufbauend auf den „Hinterlassenschaften der griechischen Antike und des arabischen Mittelalters“ in kurzer Zeit neu erfunden hat und in wenigen Jahrzehnten nicht nur unter den Wissenschaftlern, sondern auch in der städtischen Bevölkerung verbreitet hat.

Diese rasante Entwicklung stellt er dar, indem er den Fokus auf fünf bedeutende Persönlichkeiten der Renaissance legt: Johannes Müller (genannt Regiomontanus), Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer sowie Michael Stifel und Gerolamo Cardano. Während die Namen da Vinci und Dürer weithin bekannt sind, dürften die drei anderen eher nur mathematisch interessierten Lesern etwas sagen.

Dass allerdings auch die beiden Künstler sich intensiv mit Mathematik, speziell Geometrie, befasst haben, wird doch überraschen. Wohl enthalten manche ihrer Kunstwerke mathematische Objekte, so der „vitruvianische Mensch“ (das ist die berühmte Zeichnung da Vincis mit einem nackten Mann in einem Kreis und einem Quadrat) und das magische Quadrat Dürers in seinem populären Kupferstich „Melencolia I“ – aber reicht das, um beiden eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Mathematik zuzusprechen? Der Autor beschreibt eindrucksvoll, wie die Künstler sich intensiv mit Fragen der Geometrie, insbesondere der erst vor kurzem in Italien entwickelten Zentralperspektive befasst haben. Beide „arbeiten die quantitativen Aspekte der bildenden Künste akribisch heraus“ und sind für den Autor „Künstler-Ingenieure“. Da Vinci und Dürer haben ihre Erkenntnisse in wissenschaftlichen Schriften publiziert. Dürer schreibt z. B. über Parkettierungen, platonische und archimedische Körper, er entwirft Ausschneidebögen, aus denen sich Modelle der Körper basteln lassen.

Die drei anderen oben Genannten sind ebenfalls vielseitig interessiert (Müller war Astronom und Verleger, Stifel Priester und Luthers evangelischer Prediger, Cardano Arzt und Professor), lassen sich aber durchaus als Mathematiker bezeichnen, die sich überwiegend mit Algebra beschäftigt haben. Regiomontanus bringt als erster die Mathematik der alten Griechen nach Deutschland, die mit den Arabern über Spanien ins mittelalterliche Italien gelangt war. Und – vielleicht noch wichtiger für die Entwicklung der Mathematik – er verwendet in seinen Büchern die arabischen Ziffern und das Dezimalsystem und propagiert darin das schriftliche Rechnen. Obwohl er nur 40 Jahre alt wurde, ist seine Wirkung immens, er gründet um 1470 herum (erst 1440 hat Gutenberg seine Erfindung gemacht) in Nürnberg den ersten mathematisch-wissenschaftlichen Fachverlag und bringt in wenigen Jahren mehrere Dutzend Werke heraus. Ein Rechenmeister namens Wagner veröffentlicht hier auch das erste Rechenbuch in deutscher Sprache. Bekannter aber wird das didaktisch gut aufbereitete von Adam Ries, dessen weite Verbreitung zu der sprichwörtlichen Redewendung „nach Adam Riese“ führte, die sich bis heute erhalten hat.

Michael Stifel und Gerolamo Cardano sind in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen, weil sie über die Ergebnisse von Griechen und Arabern hinaus neue Entdeckungen gemacht haben. Stifel, der noch im hohen Alter von 55 Mathematik studierte, hat als Buchautor zum Beispiel die Symbole „+“, „-“, „=“ und das Wurzelzeichen √ verwendet und populär gemacht. Damit hat er dazu beigetragen, die heutige Formelsprache zu entwickeln, die eine ganz wesentliche Voraussetzung für die stürmische Entwicklung der Mathematik war (was man sich gut vorstellen kann, wenn man in diesem Buch die Beispiele liest, wie bis dahin fast alle Rechenoperationen nur durch Worte ausgedrückt werden konnten). Stifel hat die Null, Bruchzahlen, negative Zahlen, Exponenten (auch negative!) und irrationale Zahlen verwendet und eine Gleichungslehre entwickelt. Cardano ist berühmt-berüchtigt für die Veröffentlichung der Lösungen für die Gleichungen dritten Grades, die vor ihm von anderen gefunden aber nicht bekannt gemacht worden waren. Der große Wissenschaftlerstreit, der um diese Lösungen zwischen Cardano und Tartaglia entbrannte, wird von de Padova natürlich auch ausführlich dargestellt.

Dieses Buch möchte ich jedem historisch Interessierten wärmstens empfehlen – nicht nur den Mathematik-Liebhabern. Denn neben den mathematischen Inhalten werden die Fortschritte der Wissenschaften und Technik in diesen Jahrzehnten lebendig. Die schnelle Verbreitung von Papierfabriken und Druckereien wird eindrucksvoll beschrieben und man kann nachvollziehen, welch große Bedeutung diese für die Lebensläufe der fünf genannten Protagonisten und weiterer historischer Persönlichkeiten hatte. Der Zeitgeist der Renaissance mit seinen gewaltigen Veränderungen wird den Lesern plastisch vor Augen geführt.

Mit meinem Urteil über dieses Buch bin ich nicht allein. Kurz vor der Veröffentlichung dieser Rezension erfahre ich, dass Thomas de Padova den Medienpreis der Deutschen Mathematiker-Vereinigung des Jahres 2021 für „die herausragende Darstellung von Mathematik in seinen Publikationen, insbesondere in seinem Werk ‚Alles wird Zahl‘ erhält.“ Da kann ich nur gratulieren!

Rezension: Hartmut Weber (Kassel)