ADA und die Algorithmen Wahre Geschichten aus der Welt der künstlichen IntelligenzStefan Buijsman

C.H.Beck; 1. Edition (16. September 2021), 235 Seiten, 20,00 €

ISBN-10: ‎3406775632
ISBN-13: ‎978-3406775635

Digitalisierung – dieser Begriff beherrscht schon seit einigen Jahren öffentliche Diskussionen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass er in den Bundestagswahl-Programmen der großen Parteien vielfach auftaucht. Überraschend aber doch, dass selbst die beiden Schlüsselworte des Buchtitels „Algorithmen“ und „künstliche Intelligenz“ in ihnen zu finden sind.

Der vom Verlag als „mathematisches Wunderkind“ apostrophierte sehr junge Autor (Jahrgang 1998, mit einem Studienabschluss in Philosophie und einer Promotion in Mathematik) ist der Auffassung, dass die Berichterstattung über Künstliche Intelligenz (KI) teilweise übertrieben, ja „reiner Hype“ ist und führt das auf die undurchsichtige Technik zurück, die der KI zugrunde liegt. So will er uns in seinem Buch eine Vorstellung davon vermitteln, „wie künstliche Intelligenz funktioniert“. Dass er da weit bis ins 19. Jahrhundert zu Charles Babbage und seiner „Programmiererin“ Ada Lovelace zurückgeht, verwundert – diese historische Reminiszenz ist wohl eher der Tatsache geschuldet, dass Ada im Buchtitel auftritt.

Um die großen Veränderungen in diesem Bereich richtig einordnen zu können, unterscheidet der Autor die informelle Mathematik (wie er sie bezeichnet), so wie z. B. Ingenieure oder Betriebswirte sie im Alltag benutzen, von der formalen Mathematik mit ihren abstrakten Postulaten, Regeln und Aussagen, wie sie als Wissenschaft betrieben wird: denn „der formale Charakter der Mathematik bestimmt die Art und Weise, wie sich künstliche Intelligenz entwickelt hat“.

Diese regel-basierte künstliche Intelligenz prägte die ersten Jahrzehnte der Entwicklung. Beispiele für diese frühen Ansätze der KI zeigt der Verfasser an Hand eines medizinischen Expertensystems und des berühmten scheinbar natürliche Sprache verstehenden Computerprogramms Eliza von Joseph Weizenbaum. Diese Art KI-Software blieb bis in die 90iger Jahre des letzten Jahrhunderts hinter den hochgespannten Erwartungen zurück, auch wenn sie mit dem Schachprogramm Deep Blue, das den  Weltmeister 1996 schlug, einen „letzten Höhepunkt des traditionellen Ansatzes der KI“ erreichte.

Den Großteil des Buches nehmen die modernen Verfahren ein, die alle mit Hilfe von neuronalen Netzen arbeiten. Mit ihnen versuchen die Entwickler weg von den formal-mathematischen Regeln zu kommen und „Computer stattdessen auf eine für uns intuitivere Art lernen zu lassen“. An dem einfachen Beispiel der automatischen Erkennung von handgeschriebenen Ziffern zeigt der Autor, wie das prinzipiell funktioniert: Der Computer wird mit Millionen von handgeschriebenen Ziffern „gefüttert“ und mit der Information, welche Ziffer das sein soll. Bei diesem Prozess erstellt die Software ihre eigenen Regeln, identifiziert Muster und lernt also selbständig an den Beispielen. Nach Ende dieser Trainingsphase erkennt das neuronale Netz eine Ziffer mit extrem hoher Sicherheit. Das neuronale Netz hat Eingabe-Neuronen, die die Pixel des Ziffernbildes registrieren, und Ausgabe-Neuronen, die das Ergebnis, die ermittelte Ziffer, ausgeben. Und dazwischen liegen verborgene Neuronenschichten, die mit Hilfe mathematischer Methoden das Ergebnis errechnen. Diese Methoden werden nur exemplarisch und kurz mit dem sogenannten „Gradientenabstieg“ erläutert, ansonsten wird nicht auf die dahinter liegende Mathematik eingegangen.

Danach leitet der Autor über zur allgemeinen Mustererkennung in Bildern, Fotos und Texten. Neuronale Netze („Convolutional Neural Networks“ – CNN, seit 2012) versuchen dabei, Funktionsweisen von Gehirnen zu imitieren, die die Gehirnforschung im letzten Jahrzehnt bei Mensch und Tieren gewonnen hat. Auch für die Verarbeitung von natürlicher Sprache in Wort und Schrift lernen wir die neuesten Typen von neuronalen Netzen kennen, die erst in den letzten Jahren entwickelt worden sind – häufig von den Forschungsabteilungen der großen Firmen Amazon, Apple und Google. Programme, die Gesprochenes in Schrift umwandeln und Rede oder Text in eine andere Sprache übersetzen, sind heute durch die neuen Smartphones weithin bekannt. Dieser schnelle Fortschritt ist wesentlich auf zwei Gründe zurückzuführen. Zum einen verfügen die Konzerne über eine riesige Menge an Daten, die sie als Trainingsmaterial für die neuronalen Netze verwenden können und die wir alle ihnen freiwillig und kostenlos liefern. Zum zweiten hat sich die Rechenleistung der Computer weiter immens vergrößert, so dass die Software auf ein großes „Gedächtnis“ zurückgreifen kann.

Auch für die kreative Erzeugung und Manipulation von Fotos und Videos sind erst jüngst (seit 2014) neuartige neuronale Netze entwickelt worden („generative adversarial networks“ - GAN). Sie umfassen, sehr vereinfacht ausgedrückt, zwei Programmteile, deren einer den anderen kontrolliert. Diese GAN können frei erfundene Portrait-Fotos erzeugen, kurze Video-Clips aus einem einzigen Foto herstellen oder gar „Kunstwerke“ wie Gemälde oder Kompositionen kreieren (ein Portrait eines fiktiven Mannes wurde 2018 vom Aktionshaus Christie’s für 432500 US-Dollar versteigert). Diese Algorithmen sind – auch wenn Buijsman auf den mathematischen Hintergrund verzichtet – in ihrer Funktionsweise nicht einfach nachzuvollziehen .

„Geschichten“, wie im Untertitel des Buches angekündigt, findet man allerdings auch, vor allem wenn über Fehler, Fehlleistungen und misslungene Verfahren der KI berichtet wird. Aus diesen Mängeln haben die Entwickler, wie der Autor immer wieder hervorhebt, eine wesentliche Erkenntnis gewonnen: „Neuronale Netze … sind fragil, wenn man sie für etwas einsetzt, das von ihren Trainingsdaten abweicht.“

Der Autor – kein Wunder, wenn man sich beruflich mit Philosophie beschäftigt – streut in seine Beschreibung dieser Fakten immer wieder Überlegungen ein, in denen er in Frage stellt, wie die teils enthusiastischen Bewertungen solcher Produkte zu beurteilen sind. Handelt es sich bei diesen Computerkunstwerken wirklich um Kunst? Können Computer nicht nur einfache Sachtexte, sondern wirklich literarische Texte erzeugen oder sind das nicht nur Imitationen? Wie unterscheidet sich unser Gehirn von einem neuronalen Netz, woran fehlt es Computern? Menschen schreiben ihre Sätze stets im Kontext und im Zusammenspiel mit ihrer Umwelt, die einem Computer nicht zur Verfügung steht – der entwickelt seine Texte aus statistischen Daten. Aber der Autor ist vorsichtig. Seiner selbst gestellten Frage „Sind Computer zu einer Sprache ohne Bedeutung verdammt?“ gibt er die Antwort „bin ich verhalten optimistisch, dass Computer eines Tages die Bedeutung ihrer Sprache verstehen werden.“ Aber auch diese Aussage zieht er einige Absätze weiter wieder in Zweifel und kommt abschließend zum Fazit „Von allgemeiner künstlicher Intelligenz sind wir noch weit entfernt.“

Das Buch enthält viele Abbildungen, die leider zum Teil sehr klein und meistens nur in Graustufen abgedruckt sind, so dass die Sichtbarkeit leidet. Auch die Zuordnung eines Bildes zum zugehörigen Text ist nicht immer optimal vorgenommen worden. Bemerkenswert ist die große Anzahl von abgedruckten QR-Codes, mit denen man die verschiedensten Quellen im Internet aufrufen kann, die von im Buch enthaltenen Abbildungen, über youtube-Videos bis hin zu wissenschaftlichen Artikeln reichen. Das über zwanzig Seiten umfassende Literaturverzeichnis ist sorgfältig zusammengestellt, es ist nach Sachgebieten gegliedert und ermöglicht daher einfach und gezielt, sich weitere Informationen zu verschaffen, zumal von den über 200 Literaturstellen rund die Hälfte Internet-Verweise sind. Noch hilfreicher wäre es gewesen, wenn allgemein verständliche Publikationen im Unterschied zu fachwissenschaftlichen hervorgehoben wären.

Dem Laien gibt das Buch den hochaktuellen Forschungsstand der KI ausführlich wieder, erfordert allerdings in Teilen, will man sie verstehen, ein intensives Mitdenken und auch eine zusätzliche Beschäftigung mit den angegebenen Quellen aus den QR-Codes. Wer sich schon ein wenig mit der Materie auskennt, wird sicher von den zusätzliche Verweisen profitieren können.

Diese Rezension erschien am 18. November 2021 auch bei Spektrum.de: https://www.spektrum.de/rezension/buchkritik-zu-ada-und-die-algorithmen/1940668

Rezension: Hartmut Weber (Kassel)