Thomas de Padova
Carl Hanser Verlag, München 2021, 384 Seiten
ISBN: 978-3-446-26932-3, 25 €
ISBN ebook:978-3-446-27009-1, 18,99 €
„Es lohnt sich, sich mit der überall versteckten Mathematik zu beschäftigen. Und zwar nicht nur, weil sie nützlich ist, sondern weil sie den Geist anregt. Weil sie die Wirklichkeit in komprimierter Form abzubilden imstande ist. Weil sich ungeahnte Chancen daraus ergeben, die Mathematik zu einer Inspirationsquelle des eigenen Denkens zu machen“. Diese Worte stammen aus dem Vorwort des Buches „Alles wird Zahl“, welches Thomas de Padova seinem Werk vorausgestellt hat. Man erahnt daraus, dass hier jemand spricht, der genuin und schon sehr lange „Mathematik-affin“ ist, und gleichzeitig ein gutes Gespür für Sprache besitzt. Betrachtet man die Bücher, die Thomas de Padova bisher geschrieben hat, so ist ihnen eines gemein: sie betten wissenschaftliche Entwicklungen in ihren jeweiligen kulturellen und historischen Kontext ein. So war der Sprung von seinen bisherigen Werken, der Physik, von Einstein, Leibniz und Newton hin zu den Renaissance-Mathematikern Regiomontanus, Stifel, Fibonacci und Cardano gar nicht weit. Herr de Padova schildert kenntnisreich, kurzweilig und doch instruktiv, wie die Gelehrten des 15. Jahrhunderts in einer Zeit des Umbruchs binnen weniger Generationen in der Mathematik einen Fortschritt erzielten, der seinesgleichen in der Fachgeschichte sucht. Die Begeisterung für die Antike, der sich sprunghaft entwickelnde Fernhandel, die Erfindung des Buchdrucks und nicht zuletzt auch die Dynamik, die auf die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453 folgte, sie alle bereiteten den Boden, auf dem die Mathematik vortrefflich gedeihen konnte. Nicht immer linear, wie man aus dem langen Nebeneinander von römischen und arabisch-indischen Ziffern lernt; aber doch wirkgewaltig. Die Erfindung der Variablen x, der Zeichen + und –, die erste mathematische Formelsprache – dies sind Dinge, die uns von klein auf vertraut sind, deren Ursprung sich aber im Nebel der Zeiten verliert und über den wir nur wenig wissen – ein klares Versäumnis.
Der Autor arbeitet in seinem Buch deutlich heraus, dass der mathematische Abstraktionsschub dieser Zeit plötzlich eine Myriade von Anwendungen erlaubte, deren Nützlichkeit jedem sofort einleuchtete: Mathematik war nicht universell anwendbar OBWOHL, sondern gerade WEIL sie abstrakt war. Es ist eben egal, ob man den Dreisatz auf Getreidesäcke, Gestirne oder geometrische Figuren anwendet. Gleichzeitig erkennt man bei den Renaissance-Gelehrten eine fast kindliche Begeisterung für alles, was mit Mathematik zu tun hatte – Kalender und Sternentafeln, die noch Kolumbus benutzen sollte; Rechenwerke, die Rechenschulen in ganz Europa wie Pilze aus dem Boden sprießen ließen (man denke nur an Adam Ries!), die ersten gedruckten Auflagen der griechischen Klassiker, einige von ihnen gerade wiederentdeckt (Diophant) oder kaum bekannt (Apollonius von Perga). Die Zeit brachte Mathematik-Pioniere im Dutzend heraus, und die Kleinstaaterei in Italien und Deutschland erwies sich als günstig, gab es doch durch die Vielfalt der Zahlungsmittel, Kalender und Maßeinheiten immer etwas umzurechnen und obendrein eine erstaunliche Freiheit, sich da niederzulassen und zu wirken, wo man durch die Obrigkeit nicht zu sehr gestört wurde. Es war insgesamt eine wissenschaftsfreundliche Zeit, die leider mit den Glaubensstreitigkeiten, die bald ganz Europa von innen zerreissen würden, ihr Ende fand. So kam auch die Renaissance der Mathematik zu einem ersten Ende, und da endet auch dieses Buch. Doch das Wissen war in der Welt und nicht mehr aufzuhalten. Ein solch wissenschaftsfreundliches Klima würde man sich auch heute für uns wünschen! Dieses Buch zeigt uns, was dann alles möglich ist.
Es ist zu bedauern, dass in Schulen und Hochschulen nur wenig Zeit mit Mathematikgeschichte verbracht wird. Der in diesem Buch beschriebene Teil ist eher unbekannt, und so füllt das Buch von Thomas de Padova eine Lücke. Der Gegenstand ist breiten Leserschichten zugänglich, da hier noch keine „höheren Mathematikkenntnisse“ nötig sind, und trotzdem lernt man viel über abstraktes mathematisches Denken und Beweisen, den Innovationsschub, der von der Mathematik ausging, und die zu Unrecht vergessenen Akteure dieser stillen Revolution. So verwundert es nicht, dass das Buch im Herbst 2021 mit dem Medienpreis der DMV ausgezeichnet wurde.
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Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, 2022, Band 69, Seiten 155-157
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Rezension: Ilka Agricola (Uni Marburg)