Andreas Loos, Rainer Sinn, Günter M. Ziegler
Springer; 1. Aufl. 2022 Edition (1. Juli 2022); 506 Seiten; 22,99 €
ISBN-10: 3662548720
ISBN-13: 978-3662548721
„Was ist Mathematik?“ – so ist der erste Teil dieses Buches überschrieben. Und mit dieser Überschrift knüpfen die drei Autoren nach eigenem Bekunden ausdrücklich an das berühmte Buch gleichen Titels von Courant und Robbins an. Es galt lange Zeit als ein Standardwerk zur Einführung in das Fach. Die drei Verfasser – Ziegler und Sinn sind Professoren für Mathematik, Loos ist Wissenschaftsjournalist – legen hier ein Buch vor für „alle, die wissen und darüber nachdenken wollen, was Mathematik ist, insbesondere an Studierende der Mathematik“. Damit setzen sie – so wage ich zu behaupten – mit seinem aktuellen wissenschaftlichen Anspruch und seiner zeitgemäßen gestalterischen Umsetzung einen neuen Standard.
In dem angesprochenen ersten Teil geht es um allgemeine Fragen: Wie funktioniert mathematische Forschung, welche Rolle spielen Beweise, welche Bedeutung haben Formeln und Bilder, was ist die Philosophie der Mathematik? Im zweiten Teil, „Konzepte“, werden beispielhaft einige grundlegende Bereiche des Faches vorgestellt, nämlich Primzahlen, Zahlbereiche, Fragen der Unendlichkeit, Dimensionen in der Geometrie, die Entwicklung des Funktions-Begriffs und die Mathematik des Zufalls. Der dritte Teil „Mathematik im Alltag“ widmet sich den Anwendungen und dem Bild der Mathematik in der Öffentlichkeit.
Alle 15 Kapitel in diesen drei Teilen sind nach dem gleichen Schema gegliedert. Auf wenigen Seiten unter der Überschrift „Thema“ fassen die Autoren den wesentlichen Inhalt zusammen; die Darstellung setzt hier weniger Kenntnisse der Mathematik voraus. In den anschließenden „Variationen“ werden die angesprochenen Bereiche verbreitert, teils mit mehr Mathematik vertieft, auch in Teilen erklärt, häufig mit geschichtlichen Bemerkungen ergänzt und mit biographischen Notizen versehen. Während im Abschnitt „Thema“ die volle Buchseite ausgenutzt wird, unterscheiden sich die „Variationen“ schon im Layout deutlich davon: nur zwei Drittel des Blattes enthalten den fortlaufenden Text, während das restliche Drittel für ergänzende Informationen wie knappe Lebensläufe, kurze Faksimiles berühmter Quelltexte, grafische Veranschaulichungen vorbehalten ist (oder frei bleibt).
Nach „Thema“ und „Variationen“ folgen „Partituren“: diese enthalten eine fünf bis zehn Titel umfassende Liste mathematischer „Bestseller“, die jeweils mit einem kurzen Kommentar bewertet werden. Das Ende jedes Kapitel bilden die „Etüden“: dabei handelt es sich um Aufgaben ganz unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades und Umfangs. Es gibt Aufgaben, die man in wenigen Zeilen lösen kann, und geht hin bis zu Fragestellungen, die zu einem Seminarvortrag oder einer Hausarbeit ausgearbeitet werden können und bei denen zu ausgiebigen Recherchen angeregt wird.
An dieser Stelle schon einmal eine erste Einschätzung: Ich finde dieses Buch großartig. Die sicher mühevolle Arbeit an diesem Werk – mehr als elf Jahre haben die Verfasser daran gearbeitet – hat sich gelohnt. Um einen besseren Eindruck vom Stil und Inhalt zu geben, will ich im Folgenden jeweils ein Kapitel aus den drei Teilen ausführlicher besprechen.
In Teil 1 geht es in einem Kapitel um „Beweise“. Im Abschnitt „Thema“ (6 Seiten) wird auf Euklid verweisend der klassische Aufbau mit Axiomen, Definitionen, Lehrsätzen und Beweisen beschrieben. Dem schließen sich eine Aufzählung von Beweistechniken und Überlegungen zu den Grenzen der Beweisbarkeit an, auf deren ausführliche Besprechung im Kapitel über „Philosophie der Mathematik“ hingewiesen wird.
Bei den „Variationen“ (15 Seiten) sind zunächst die historischen Wurzeln bei den alten Griechen Thema: Thales von Milet, Aristoteles und Eudoxos werden neben Euklid erwähnt und dessen Schriften über geometrische und zahlentheoretische Inhalte beschrieben, in denen sich der euklidische Algorithmus und „der berühmte Satz von der Unendlichkeit der Primzahlen“ findet. Es folgen anschauliche Beschreibungen von direktem und indirektem Beweis, vom Schubfachprinzip und von der vollständigen Induktion, letztere wird mit Abbildung historischer Quelle am Pascal’schen Dreieck demonstriert. Neben diesen klassischen Verfahren, stellt die von Paul Erdös entwickelte probabilistische Methode, vorgeführt an einem Beispiel aus der Graphentheorie (Ramsey-Zahl), ein modernes Verfahren vor. Weiter wird thematisiert, wie sich die Anforderungen an die Strenge von Beweisen verändert haben. Hilbert (für die Geometrie), van der Waerden (für die Algebra) und schließlich Bourbaki haben im letzten Jahrhundert dafür neue Maßstäbe gesetzt. Abschließend diskutieren die Verfasser ausführlich die Rolle des Computers bei Beweisen, die seit dem 1976 veröffentlichten Beweis des Vierfarbensatzes bis heute unterschiedlich beurteilt wird.
Das Kapitel „Unendlichkeit“ aus Teil 2 stellt im Abschnitt „Thema“ (4 Seiten) die schon in der Antike von Aristoteles, Zenon und Archimedes angestellten Überlegungen und Paradoxien vor. Beschreibt weiter Paradoxien der Geometrie, wie die schon von Torricelli im 17. Jahrhundert entdeckte „Trompete“, die ein Körper mit endlichem Volumen, aber unendlicher Oberfläche ist. Der moderne Umgang mit dem Unendlichen etwa in der Mengenlehre, wie sie mit dem Namen Cantor verbunden ist, oder in der projektiven Geometrie beschließen diesen Abschnitt. In den „Variationen“ (20 Seiten) wird die von Aristoteles eingeführte Unterscheidung von „aktualen“ und „potenziellen“ Unendlichkeiten diskutiert und gezeigt, dass diese die Mathematikgeschichte bis heute beschäftigt. Ausführlicher auch anhand von Quelltexten ist die mathematische Fassung der Unendlichkeit im 19. Jahrhundert dargestellt, die von den Gegensätzen von Kummer und Weierstraß auf der einen und Dedekind und Cantor auf der anderen Seite geprägt wurde. Recht kurz erfährt man noch von „modernen“ Entwicklungen wie der Non-Standard-Analysis.
Aus dem dritten Teil „Mathematik im Alltag“ wähle ich das Kapitel „Algorithmen und Komplexität“, dass erst durch die Computer-Technik in unserer Zeit eine besondere Bedeutung gewonnen hat – das wird im ersten Abschnitt im „Thema“ begründet (7 Seiten). Die „Variationen“ (17 Seiten) beginnen mit der „Neunerprobe“ und einer sehr kurzen Erwähnung des arabischen Mathematikers Musa al-Hwarizmi, von dessen Namen sich das Wort „Algorithmus“ ableitet. Auf dem Weg zum programmierbaren Rechner begegnen uns Schickard, Leibniz und Pascal, die mechanische Rechenmaschinen entwickelt haben, dann Jacquard mit seinem mechanischen Webstuhl und schließlich Charles Babbage, der eine „Analytical Engine“ plante, die nie gebaut wurde, und Ada Lovelace, die das erste Computerprogramm dafür schrieb. Über Alan Turing kommen die Verfasser dann auch sehr schnell auf den Begriff der Komplexität und das Problem „P versus NP“ zu sprechen, das für die praktische Berechenbarkeit vieler Algorithmen von großer Bedeutung ist. Das bekannte Travelling-Salesman-Problem dient hier als Beispiel für eine ausführliche Demonstration.
Die Verfasser schreiben im Vorwort „Insgesamt ist das Buch als ein Lesebuch gedacht, das erzählt, aber nur in sehr kleinem Umfang Mathematik erklärt.“ (Kursivschrift von den Verfassern). Und weiter „Das Ganze ist als ein Lese- und Schmökerbuch gedacht, das kreuz und quer gelesen werden kann und soll.“ So bin ich auch an dieses Buch herangegangen, habe Kapitel ausgewählt, mir Vertrautes gefunden, aber auch Neues gelernt, nach Querverweisen andere Abschnitte aufgeschlagen und dort weitergelesen – immer mich gefreut, wie inspirierend und lebendig die Mathematik und ihre Geschichte hier erzählt wird.
Ein Personen- und ein Sachverzeichnis sind sehr hilfreich beim Schmökern. Wer dann noch mehr erfahren will, findet in den Partituren und im kompletten Literaturverzeichnis mit über 500 Titeln sicher die richtige Quelle.
Rezension: Hartmut Weber (Kassel)