Simon Syga, Dieter Wolf-Gladrow, Andreas Deutsch
Springer; 1. Aufl. 2022 Edition (12. August 2022); 132 Seiten; 17,99 €
ISBN-10: 3662648121
ISBN-13: 978-3662648124
Seit dem Beginn der Pandemie vor fast drei Jahren kamen in vielen Medien regelmäßig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Wort, deren Tätigkeit viele Menschen zuvor vermutlich nicht gekannt haben: die mathematische Modellierung. Dieser Profession gehen die drei Autoren nach, Gladrow arbeitet am Alfred-Wegener-Zentrum in Bremen, die beiden anderen an der TU Dresden. Sie wollen mit diesem Buch „die Dynamik der COVID-19-Pandemie aus einer mathematischen Perspektive“ analysieren und „grundlegende Begriffe, Modelle, Herausforderungen und auch Missverständnisse auf verständliche Weise“ beschreiben.
Im ersten Kapitel (22 Seiten) fassen sie die zugrunde liegenden Fakten dieser Krankheit und des Verlaufs der Epidemie (bis zum Oktober 2021) zusammen, die aufmerksamen Zeitgenossen sicher bekannt sein dürften: Infektion, Übertragung, typische Krankheitsverläufe, Testverfahren und Kennzahlen des Infektionsgeschehens. Von letzteren werden insbesondere die Basisreproduktionszahl R0 und die effektiven Reproduktionszahlen (der sogenannte R-Wert) besprochen.
Danach führen die Autoren in die Mathematik der Pandemie ein. Sie verzichten im laufenden Text weitgehend auf mathematische Formeln, diese sind in „separate Infoboxen ausgelagert“. Hier werden für den mathematisch Interessierten die notwendigen Informationen geliefert, falls er die einfachen Modelle selbst in ein Programm umsetzen will. Im Buch sind nur die Ergebnisse der Simulationen in Form von Grafiken abgebildet.
Die nächsten Abschnitte (30 Seiten) sind der Mathematik des Modellierens gewidmet. Das exponentielle Wachstum, Exponential- und Logarithmus-Funktion werden beschrieben, die Differentialgleichung dafür hergeleitet und gelöst. Dem schließt sich das „Basismodell“ für das Wachstum der Infektionen in einer Epidemie an, das schon vor ca. 100 Jahren entwickelt worden ist. Es handelt sich um das SIR-Modell, dessen drei Buchstaben für die englischen Bezeichnungen der drei Gruppen stehen, in die bei diesem Modell die Bevölkerung eingeteilt wird: die für die Krankheit Anfälligen (susceptible), die Ansteckenden (infectious) und die Entfernten (removed). Ein System von einfachen Differentialgleichungen beschreibt die zeitliche Veränderung der Gruppengrößen. An Hand der Lösungen wird auch der Begriff der Herdenimmunität definiert und dessen Abhängigkeit von der Basisreproduktionszahl R0 diskutiert.
Nachdem zunächst also die theoretische Entwicklung der Covid-Pandemie in diesem Modell beschrieben wurde, wie sie ohne reguliende Eingriffe von außen ablaufen würde, wird anschließend das Modell variiert (17 Seiten). Die möglichen Maßnahmen des Staates werden der Reihe nach untersucht. Für die Nachverfolgung der Kontakte, die zur Unterbrechung von Infektionsketten führen sollen, für die Kontaktbeschränkungen oder einen kompletten Lockdown, die den R-Wert unter 1 drücken sollen, passen die Autoren die Gleichungen an und stellen deren Lösungen grafisch dar. Schließlich untersuchen sie den Einfluss von Impfungen und zeigen die Abhängigkeit der Größe der Herdenimmunität von der Impfquote.
Während die bisherigen Modellbildungen sogenannte „Kompartmente“ untersucht haben, d. h. Gruppen der Bevölkerung (s, i, r), die in sich als homogen bezüglich der Infektiosität betrachtet werden, steht im nächsten Abschnitt ein „agenten-basiertes Modell“ im Mittelpunkt (9 Seiten). Das Phänomen des „superspreading“, das von einer hochansteckenden Person ausgehen kann, kann mit Hilfe von Netzwerken analysiert werden. Ergebnisse dieser Methode werden allerdings nur kurz vorgeführt.
Im abschließenden Kapitel (14 Seiten) diskutieren die Verfasser die Unsicherheit von Prognosen. Im Vergleich der Modellbildungen für Wetter, Klima oder eine Pandemie betonen sie die unterschiedlichen Voraussetzungen, die solchen Forschungen zu Grunde liegen. Während Wettermodelle ausschließlich von der Physik und Mathematik bestimmt sind, müssen beim Klima und bei Pandemien beispielsweise auch politische Entscheidungen oder menschliche Verhaltensänderungen einfließen, die eine Prognose beeinflussen. Man kann daher nach ihrer Meinung „Vorhersagen“ beim Wetter geben, aber sollte bei Klima und Pandemien von möglichen „Szenarien“ sprechen, die gerade wegen ihrer Existenz zu dem bekannten Phänomen des Prognose-Paradoxons führen können oder besser sollen. (Christian Drosten sprach vom Präventionsparadox und formulierte „There is no glory in prevention.“)
Der Stil des Buches ist nüchtern, knapp, aber gut verständlich, wenn man Vorkenntnisse der Differentialrechnung hat. Einige mathematische und modelltheoretische Ergänzungen im Anhang, ein Literatur- und ein Stichwortverzeichnis runden das kleine Buch ab, das ich allen sehr empfehlen kann, die Einblick in die Methoden der Modellierer erhalten wollen.
Rezension: Hartmut Weber (Kassel)