Craig A. Stephenson

American Mathematical Society (18. Juni 2021); Englisch; 255 Seiten; 126,09 €

ISBN-10: ‎1470456710
ISBN-13: ‎978-1470456719

Forest Ray Moulton (1872-1952) ist der Verfasser eines berühmten Werks „Periodic Orbits“4. Wie es oft passiert, wenn man ein mathematisches Werk zur Hand nimmt, so fragt sich der Leser, wie der Autor auf diese mathematische Theorie gekommen ist. Eine Ausnahme hierzu ist wohl die „Astronomia Nova“ von Johannes Kepler, in der Kepler nicht nur seine Resultate erklärt, sondern auch erzählt, durch welche Irrwege er diese gefunden hat2. Kepler schreibt dazu im Vorwort:

Dabei handelt es sich nicht allein darum, wie der Leser auf die einfachste Weise in die Kenntnis des vorzutragenden Stoffes eingeführt wird, sondern hauptsächlich darum, durch welche Gründe, Schliche und auch günstige Zufälle ich, der Urheber, von Anfang an darauf gekommen bin. Wenn Christoph Columbus, Magelhaens, die Portugiesen von ihren Irrfahrten erzählen, so verzeihen wir ihnen nicht nur, sondern wir möchten ihre Erzählung nicht einmal missen …

Dank dem hochinteressanten Buch von Craig Stephenson über Moulton haben wir nun ein viel tieferes Verständnis über die Gründe, Schliche aber auch Irrfahrten, die Moulton zu diesem monumentalen Werk geführt haben. Insbesondere lernen wir auch über die neue Mondtheorie, an der Moulton jahrelang arbeitete, die aber nie in der geplanten Form erschienen ist, und die es in der von Moulton geplanten Form vermutlich auch nie geben wird, die aber einen ganz entscheidenden Einfluss auf Moultons Werk und die Entwicklung der Mathematik hatte.

In den ersten fünf Kapiteln erzählt uns Craig Stephenson über die Suche nach periodischen Bahnen vor Moulton. Die Bestimmung der Mondbahn hat bereits Newton große Kopfschmerzen bereitet. In der Tat sind die Anziehungskräfte der Erde und der Sonne auf den Mond von vergleichbarer Grössenordnung, so dass man die eine Kraft nicht als kleine Störung der anderen betrachten kann. Andererseits ist die Anziehungskraft des Mondes auf die Erde und Sonne sehr klein. Deshalb macht es Sinn, das restringierte Dreikörperproblem zu betrachten, in dem die Anziehungskraft des Mondes auf die Erde und die Sonne vernachlässigt wird. Hill hat von diesem Problem einen Grenzfall betrachtet und für diesen Grenzfall, das sogenannte Hill’sche Mondproblem, eine periodische Bahn gefunden1. In der Tat ist es keine schlechte Idee, periodische Bahnen zu suchen, wenn man die Bahn des Mondes verstehen will. Diese ist nämlich tatsächlich fast periodisch mit der Periode einen Monat.

Poincaré war zutiefst beeindruckt von der Arbeit von Hill. Nach seiner Entdeckung des Chaos schätzte er periodische Bahnen umso mehr als „die einzige Bresche in eine sonst uneinnehmbare Festung“. So vermutete er dann auch, dass sich jede Bahn durch eine periodische Bahn beliebig gut annähern lässt, wenngleich die Periode der approximierenden periodischen Bahn dabei beliebig lang werden kann. So allgemein kann die Vermutung von Poincaré nicht wahr sein, kennen wir doch auch Hamiltonsche Systeme ohne periodische Bahnen. Doch inwieweit Poincaré’s Vermutung stimmt, wenn man das System ein bisschen stört, ist ein Problem, zu dem auch heute noch neue Forschungsresultate gefunden werden.

Wie wir im Buch von Craig Stephenson lernen, wollte Moulton, motiviert durch die Vermutung von Poincaré, eine bessere Annäherung an die tatsächliche Mondbahn finden als diejenige, die Hill gefunden hatte. Die Bahn von Hill liegt in der Ekliptik, das heißt der Ebene in der sich die Erde und die Sonne bewegen. Die Mondbahn ist aber etwa fünf Grad gegen die Ekliptik geneigt. Deshalb sollte eine solche bessere Approximation eine räumliche periodische Bahn sein.

Bereits in seiner Dissertation hatte Moulton räumliche periodische Bahnen gefunden. Heutzutage sind diese bekannt als vertikale Lyapunovbahnen, während Moulton diese Bahnen „ice-tong“ Bahnen nannte. Wie er deren Existenz zeigte, ist der Inhalt der Kapitel fünf und sechs in seinem Buch über „Periodic Orbits“. Die Tatsache, dass er als erster die Existenz von räumlichen periodischen Bahnen bewies, war ein wichtiges Argument von Moulton in seinem Forschungsantrag an die Carnegie Institution. Was im heutigen Zeitalter der Computer etwas nostalgische Gefühle hervorruft, ist, dass Moulton in seinem Forschungsantrag fünf Männer beantragte, die für ihn rechnen würden. Zur grossen Enttäuschung von Moulton wurde sein Forschungsantrag vom Carnegie Institut nicht berücksichtigt, und es scheint, dass er zu diesem Zwecke den Präsidenten der Carnegie Institution, Robert Simpson Woodward, nicht einmal persönlich treffen konnte.

Von seiner neuen Mondtheorie, in die er so viel investierte, publizierte Moulton am Ende bloss das paper „A Class of Periodic Solutions of the Problem of Three Bodies with Application to the Lunar Theory“3. Wie aber seine Mondtheorie nach vielen weiteren Irrungen und Wirrungen lange Zeit später zu Moultons fundamentalem Werk über periodische Bahnen führte, das wird im Buch von Craig Stephenson tief berührend erzählt. Dabei erfahren wir auch etwas über die oftmals mysteriöse Art wie Forschung voranschreitet. Selbst wenn die ursprünglichen Motivationen der Forschenden am Ende kaum mehr ersichtlich sind, so führen sie nach vielen schweren Schicksalsschlägen und Irrfahrten doch zu ganz unerwarteten neuen Resultaten, die dann wiederum eine neue Generation von Forschenden zu neuen Expeditionen anregen.

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Literatur
1 Hill, G.: Researches in the lunar theory. Am. J. Math. 1(1-3), 5–26, 129–147, 245–260 (1878). Reprinted in The Collected Mathematical Works of George William Hill, Vol. 1, Carnegie Institution of Washington 284–335 (1905)
2 Kepler, J.: Astronomia Nova, Übersetzt vonM.Kaspar, Durchgesehen von F.Krafft.Marixverlag, Wiesbaden (2005)
3 Moulton, F.: A class of periodic solutions of the problem of three bodies with application to the lunar theory. Trans. Amer. Math. Soc. 7(4), 537–577 (1906)
4 Moulton, F.: Periodic orbits, the Carnegie Institution of Washington. Publication 161, xv+524 Seiten (1920)

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, 2023, Band 70, S. 73-75
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Rezension: Urs Frauenfelder (Uni Augsburg)