das orakel der zahlenGordon Gillespie

C.H.Beck; 1. Edition (16. Februar 2023); 303 Seiten; 26 €

ISBN-10: ‎3406798837
ISBN-13: ‎978-3406798832

Der Autor – beruflich tätig als freier Unternehmensberater in Fragen der mathematischen Risikomodellierung und Datenanalyse – hat Mathematik und Physik studiert und in Philosophie promoviert. In diesen drei Disziplinen nimmt er uns mit auf eine Reise, die man wohl nur dann so richtig schätzen kann, wenn man in allen drei Fächern (mindestens) solide Schulkenntnisse besitzt.

Der Verfasser will – wie er im Vorwort schreibt – „das Unmögliche [versuchen], nämlich [in die Tiefe] zu bohren und Sie trotzdem nicht verlieren“. Und er möchte den Graben zwischen den „zwei Kulturen“, den Geistes- und Sozialwissenschaften auf der einen und den Natur- und Technikwissenschaften auf der andren Seite überwinden helfen. Er verzichtet weitgehend auf mathematische Formeln und Herleitungen, „die Vermittlung [soll] möglichst leichtfüßig voranschreiten“. Das „Leichtfüßige“ gelingt ihm ganz hervorragend, sein Stil ist gefällig, seine Formulierungen immer wieder einmal salopp, verleiten ab und zu zum Schmunzeln, die zahlreichen Vergleiche und überraschenden Metaphern machen den Text interessant und abwechslungsreich. Seine Lösung des Problems einer „gendergerechten“ Sprache liest sich sehr angenehm: dem „Mathematiker“ (als generisches Maskulinum) stellt er kurz darauf die „Physikerin“ (als generisches Femininum) zur Seite.

Der Buchtitel „Orakel der Zahlen“ trifft den Inhalt nicht so ganz. Nur das erste Kapitel ist diesen gewidmet – allerdings geht der Verfasser auch hier schon auf Aspekte ein, die über das rein Mathematische hinausgehen und den Untertitel „Philosophie der Mathematik“ rechtfertigen. Vor den Zahlen schon gab es das Zählen, wie er in einer fiktiven Zeitreise in die Steinzeit an dem Leben einer „Sippe von Jägern und Sammlern“ demonstriert. Dem Zählen liegt als Schlüssel zum Verständnis die Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Mengen zugrunde. So haben Menschen (und nicht der „liebe Gott“, wie Leopold Kronecker meinte) die natürlichen Zahlen als „durch ihre funktionale Rolle im Rahmen des Zählens bestimmte Abstrakta“ geschaffen. Als Quintessenz dieses Abschnitts hält der Autor fest, dass die Anwendbarkeit der Zahlen ihnen „gewissermaßen in die Wiege gelegt“ ist – ihr „Verallgemeinerungspotenzial“ bis hin zur modernen abstrakten Algebra sei erstaunlich, aber kein Wunder.

Als wichtige Erkenntnis im nächsten Kapitel über Geometrie stellt der Autor fest, dass die „alten“ Griechen als Urväter dieser Disziplin diese weitgehend ohne Zahlen betrieben haben (was sicher auch damit zu erklären sei, dass sie kein praktikables Zahlensystem hatten). Das zeigt sich deutlich an den drei klassischen Problemen, von denen das bekannteste die sogenannte „Quadratur des Kreises“ ist. Dabei waren nur Zirkel und Lineal (und dieses ohne Zahlenmarkierungen!) erlaubt, um damit aus einem Kreis ein Quadrat mit gleichem Flächeninhalt zu konstruieren. Dann aber hat gerade die Geometrie zur „Schockgeburt“ der irrationalen Zahlen geführt, die von Hippasos, einem Schüler des Pythagoras, entdeckt worden ist (nämlich die Wurzel aus zwei als Länge der Diagonalen im Quadrat mit Seitenlänge eins). Die Existenz irrationaler Zahlen erschütterte zwar das Weltbild der Pythagoreer, da sich diese Zahlen aber später gut auf dem Zahlenstrahl einfügen ließen und man mit ihnen auch auf gleiche Weise rechnen konnte, wurden sie schließlich akzeptiert. Das von Descartes im 17. Jahrhundert eingeführte Koordinatensystem führte nach Meinung des Verfassers zu einer völlig neuen Geometrie, die er in ihrer Konsequenz als „Vereinigung von Geometrie und Algebra“ als „einen der wichtigsten Meilensteine in der gesamten Wissenschaftsgeschichte“ bewertet.

Der nächste Abschnitt stellt das Thema Unendlichkeit in den Mittelpunkt. Ausgehend von Zenons berühmtem Paradoxon von Achill und der Schildkröte werden ausführlich die Argumente für das potentiell und das aktual Unendliche diskutiert. Der Verfasser begründet, warum sich Aristoteles’ Argumentation gegen das Aktual-Unendliche durchgesetzt hat und über fast zwei Jahrtausende dank dessen Autorität die vorherrschende Lehrmeinung war. Trotzdem konnten Leibniz und Newton die Differentialrechnung entwickeln, in der sie doch undefinierte unendlich kleine Größen verwendeten. Erst im 19. Jahrhundert schufen Cauchy und Bolzano mit der exakten Definition des Grenzwerts exakte Grundlagen dafür, wie man das Problem des Aktual-Unendlichen umgehen konnte. Überraschend kommt dann die anfangs vom Autor schon als so wichtig erachtete Eins-zu-eins-Beziehung wieder mit voller Macht zu Wort: Cantor erschafft mit seinen Untersuchungen das aktual Unendliche und so „ein komplexes Reich unendlich vieler Formen des Unendlichen“. Die mit dem Begriff „Menge“ bald darauf auftretende „Grundlagenkrise der Mathematik“, ausgelöst durch Bertrand Russells berühmte Antinomie, wird zum Schluss der ersten Hälfte des Buches beschrieben und analysiert.

Nachdem sich Gillespie so den „Fundamenten der Mathematik“ gewidmet hat, betrachtet er in der zweiten Buchhälfte das Verhältnis der Mathematik zu der Physik und zu den Geisteswissenschaften.

Ausführlich behandelt er die Geometrie der speziellen Relativitätstheorie. Er beginnt mit dem „Zwillingsparadoxon“ und nutzt in seiner Argumentation durchweg das von Albert Einstein selbst mehrfach verwendete Beispiel des geradeaus verlaufenden Bahndamms und des vorüber rasenden Zuges. Dadurch kann er die Raumzeit auf eine Raumdimension beschränken und die „Weltlinien“ in einem zweidimensionalen Länge-Zeit-Kordinatensystem anschaulich darstellen. Anhand vieler dieser sogenannten Minkowski-Diagramme erklärt Gillespie den Begriff eines Inertialsystems und daraus folgernd die Phänomene der Zeitdilatation und Längenkontraktion. Er verlangt seinen Leserinnen in diesem Abschnitt ein hohes Abstraktionsvermögen in der Geometrie und solide Kenntnisse auch in der Physik ab. Auch wenn er der Ansicht ist, dass die spezielle Relativitätstheorie nur eine Frage der Geometrie ist, dürften doch Begriffe wie Inertialsystem, Galilei- und Lorentz-Transformationen oder Eigenzeit vielen Lesern unbekannt sein. Seine im Vorwort geäußerte Aussage „den allermeisten Ausführungen werden Sie auch dann folgen können, wenn ‚Mathe nie Ihr Ding‘ gewesen ist“ halte ich für sehr optimistisch. Da für mich die Physik „nicht so ganz mein Ding“ ist, kann ich nur versuchen, den sehr klaren Erläuterungen und Schlüssen zu folgen. Ich muss aber dann seinen Aussagen vertrauen, wenn er sehr kritisch andere Darstellungen oder Aussagen von Physikern (bis hin zu einer Koryphäe wie Richard Feynman) bewertet und in Frage stellt. Oder wenn er an anderer Stelle die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie skeptisch sieht und eher der (mir nicht bekannten) Alternative der „de-Broglie-Bohm’schen Mechanik“ zuneigt.

Ausführlich untersucht Gillespie die Frage, wie die „enorme Nützlichkeit der Mathematik für Naturwissenschaft und Technik zu verstehen ist“. Folgerichtig widerspricht er scharf der Auffassung von der „Mathematik als Spiel“, die sie vor allem als eine Wissenschaft sieht, in der ausgehend von Axiomen nach formalen Regeln (unabhängig von irgendeiner Realität) abstrakte logische Folgerungen gezogen werden. Dabei denkt er an Hilbert, wenn der in seinen „Grundlagen der Geometrie“ den berühmt gewordenen Satz formuliert, nachdem „Punkte“, „Geraden“ und „Ebenen“ auch durch „Tische“, „Stühle“ und „Bierseidel“ ersetzt werden könnten. Auch das immer wieder geäußerte Erstaunen darüber, wie wunderbar die Mathematik die Naturerscheinungen beschreiben kann, ist für ihn nicht nachvollziehbar. „Die Anwendbarkeit der Mathematik […] in unserer Welt ist vielmehr von vornherein in ihr angelegt.“ „Nicht der Zusammenhang zwischen Mathematik und Welt ist erstaunlich. Das eigentlich Erstaunliche verbirgt sich vielmehr weit innerhalb der Grenzen des mathematischen Reichs selbst.“ Das macht er an Beispielen deutlich: beispielsweise an dem Weg der Kugel in einem Galton-Brett, den man als eine 0-1-Folge darstellen und darauf die Binomialverteilung anwenden kann – dass man dann aber überraschenderweise mit der Euler’schen Zahl e zur Normalverteilung kommen kann, sei nicht in der Natur angelegt, sondern eine grandiose innermathematische Entdeckung.

Im Schlusskapitel setzt sich Gillespie mit dem Verhältnis zwischen der Mathematik und den Geistes- und Sozialwissenschaften auseinander. Ausgehend von einigen Beispielen aus der Wahrscheinlichkeitstheorie – „eine Theorie rationaler Entscheidungsfindung unter unvollständigem Wissen“ – diskutiert er Beispiele aus der Medizin, der Volkswirtschaftslehre, der Politik, Jura, Geschichtswissenschaft und Philosophie und stellt fest, dass bei diesen Themen mathematische Kenntnisse sehr hilfreich gewesen wären. Er will „keineswegs einer unkritischen Mathematisierung [...] das Wort reden“, aber „insbesondere die Fähigkeit, sinnvolle von unsinnigen mathematischen Modellbildungen unterscheiden und die Grenzen jener bemessen zu können“ sei wichtig.

Der Autor hat ein sehr anspruchsvolles Werk geschrieben. Wer sich darauf einlassen will, braucht Zeit und intensives Mitdenken, wird sicher auch manche Passagen zwei oder dreimal lesen müssen – aber es lohnt sich: „die Auseinandersetzung führt“, um noch einmal aus dem Vorwort zu zitieren, “zur produktiven Hinterfragung und Bereicherung der eigenen Sicht- und Denkweise“. 

Rezension: Hartmut Weber (Kassel)