die kunst des zaehlensThomas Barth

Wiley-VCH; 1. Edition (5. Oktober 2022); Taschenbuch; 368 Seiten;34,90 €

ISBN-10: 3527413790
ISBN-13: 978-3527413799

Der Untertitel trifft den Inhalt dieses Buches besser als die Überschrift „Die Kunst des Zählens“. Der Autor will – wie er in seiner Einleitung mehrfach betont –  dass sein Buch für Nicht-Mathematiker verständlich bleibt. So kommt „richtige“ Mathematik nur an sehr wenigen Stellen vor, auf die er auch noch vorweg ausdrücklich hinweist, um den Lesern ein Überblättern zu ermöglichen.

Eher für mathematisch Interessierte ist die Darstellung der Entwicklung des Zahlbegriffs gedacht, sie reicht von den natürlichen Zahlen, über die Problematik des aktual oder potentiell Unendlichen bei Aristoteles und Platon, bis hin zur Grundlegung der reellen Zahlen durch Cauchy, Weierstrass und Dedekind im 19. Jahrhundert – nimmt aber nur rund 20 Prozent der 330 Seiten ein. Dabei zeigt sich der Verfasser als ein Anhänger des sog. Konstruktivismus und Student von Paul Lorenzen. Statt der von dieser Denkschule verwendeten Begriffe „Proponent“ und „Opponent“ verwendet er im dialogischen Argumentieren die Wörter „Auftraggeber“ und „Dienstleister“. Allerdings geht er auf diese spezielle Auffassung von Mathematik nicht explizit ein.

Der Reiz des Buches liegt für mich in den anderen Kapiteln, die rund 80 Prozent des Textes ausmachen – ich vermute, dass dies auch für viele andere Leser zutreffen wird.

Hier legt der Autor den Schwerpunkt auf den historischen Abriss nicht der theoretischen, sondern der angewandten Mathematik. Es geht dabei um Landvermessung, Zeitmessung, Kartenkunde, das heliozentrische Weltbild, Astronomie und die mathematischen Hilfsmittel dafür. Das alles ist sehr gut lesbar und auch für mathematische „Laien“ verständlich und interessant. Auch die immer wieder eingestreuten biografischen Daten der Wissenschaftler und die Einbettung in den historischen Zeitgeist machen diese Abschnitte lesenswert.

In rund einem Drittel des Buches widmet er sich der Zeit des Hellenismus. In ihr fand seiner Ansicht nach eine wissenschaftliche Revolution statt, die durch Namen wie Aristoteles, Archimedes, Eratosthenes und Ptolemäus sowie durch die Bibliothek von Alexandria geprägt wurde. Vor allem die damals entwickelten technischen Hilfsmittel werden ausführlich vorgestellt. Der Vermessung der Erde, am bekanntesten wohl der von Eratosthenes erstmals ermittelte Umfang eines Großkreises der Erde, wird detailliert beschrieben. Die Bestimmung von Breiten- und Längengrad waren nötig geworden, damit man Landkarten möglichst genau erstellen konnte. Wasseruhren wurden erfunden, die genauer als Sonnenuhren die Zeit messen. Das ermöglichte es, von der temporalen Einteilung der Tageszeit zu der äqualen (äquinoktialen) überzugehen. Bei der ersten wird der lichte Tag, unabhängig von der Jahreszeit, in je 12 Abschnitte geteilt, so dass diese Abschnitte im Sommer länger sind als im Winter, während bei letzterer, wie wir es gewohnt sind, jeder Abschnitt, also jede Stunde gleich lang ist. Astronomische Geräte und Modelle, die von Archimedes gebaut wurden, sind leider nicht erhalten, nur aus Berichten wissen wir davon. Der überraschend im Jahre 1901 gefundene „Mechanismus von Antikythera“, ein Wunderwerk der Technik, wird ausführlich beschrieben.

Von Alexandria aus verlagerte sich das mathematische und technische Wissen „nach Indien und Bagdad“, wie der Autor formuliert und auf wenigen Seiten nur skizziert. Erst das Europa in der Zeit der Renaissance wird wieder sehr ausführlich geschildert: Die mathematische Technik mit der Erfindung der Perspektive durch Leonardo da Vinci, des Baus der feinmechanischen Uhren und Himmelsgloben durch den Uhrmacher Jost Bürgi, die physikalischen und astronomischen Entdeckungen von Kepler und Galilei bis hin zur Bestimmung des Längengrads auch auf hoher See (mit Hilfe präziser Uhren im 18. Jahrhundert). Als Kasseler freue ich mich über die ausführliche Beschreibung der Bedeutung von Kassel zu dieser Zeit: als „genialer Instrumentenbauer und Uhrmacher“ wird Jost Bürgi vom Verfasser gewürdigt und auch als Mathematiker, der „einen größeren Anteil an den Kepler’schen Gesetzen gehabt haben [dürfte], als allgemein bekannt“.

Nachdem die Bedeutung von Archimedes in der Antike schon ausführlich gewürdigt worden war, wird auch die Wiederentdeckung seiner Schriften spannend erzählt – ein Teil seiner Aufzeichnungen wurde in der Renaissance wieder entdeckt: „Durch seine Kongenialität hat Bürgi sehr zur Rezeption von Archimedes beigetragen.“ Ein Manuskript aber, in der Wissenschaftsgeschichte bekannt als „Kodex C“, verschwindet nach seiner Entdeckung Anfang des 20. Jahrhunderts erneut und wird erst jüngst in unserem Jahrhundert auf abenteuerlichen Wegen wieder gefunden und ausgewertet – wie spannend beschrieben wird.

In den letzten beiden Kapiteln wird die Entwicklung der Computer dargestellt. Es geht los mit den Rechenmaschinen, die Schickard, Pascal und Leibniz im 17. Jahrhundert konstruiert haben, bis hin zu Zuse, von Neumann und Turing. Die Bedeutung der für die modernen Computer entwickelten Algorithmen zeigt der Verfasser auf und weist auf die Gefahren für den Persönlichkeitsschutz hin. Abschließend gibt der Autor eine kurze und sehr klare Einschätzung der aktuellen Fragen zu Big Data und der Künstlichen Intelligenz.

Rezension: Hartmut Weber (Kassel)