geschichten aus der mathematikHeinz Klaus Strick

Springer; 1. Aufl. 2023 Edition (7. November 2023); Taschenbuch, 424 S.; 29,99 €

ISBN-10: 3662669056
ISBN-13: ‎978-3662669051

Mathematik aus Indien oder China? Dazu fällt mir spontan doch gar nichts ein. Dabei halte ich etwas auf meine mathematik-historischen Kenntnisse. Doch schon beim Überfliegen des Inhaltsverzeichnisses muss ich feststellen, dass ich nicht einmal die Namen der meisten hier beschriebenen Mathematiker (es sind wirklich nur Männer) gekannt – geschweige denn, etwas von ihren Leistungen gehört oder gelesen habe. Aber da bin ich nicht der einzige, wie ich in der Einleitung des Verfassers lesen kann: „Unser heutiges Bild von Mathematik ist geprägt von der Entwicklung des Fachs auf unserem europäischen Kontinent. Andere Kulturen spielten und spielen in unserem Bewusstsein kaum eine Rolle.“

Schon der Titel des Buches „Geschichten aus der Mathematik“ zeigt, dass es dem Verfasser nicht um eine systematische Darstellung der Geschichte des Fachs geht. Vielmehr wählt er wichtige Wissenschaftler eines Landes oder einer Epoche aus und beschreibt ihre Herkunft und ihren Werdegang, bevor er ihre Leistungen recht ausführlich vorstellt. Diese sind durch ihre Schriften überliefert und enthalten in der Regel umfangreiche Aufgabensammlungen aus den Bereichen Arithmetik, Algebra und Geometrie. Strick erläutert den Aufbau der Sammlungen, gibt den Inhalt der Kapitel wieder und wählt typische Aufgaben aus, die er mit Lösungen und Grafiken ergänzt. Der Titel darf erwartungsvolle Leserinnen oder Leser nicht in die Irre führen – sehr viele „Geschichten“ im herkömmlichen Sinn werden nicht präsentiert – obwohl die hier skizzierten Lebensläufe (insbesondere der europäischen Mathematiker) auch dafür sicher Anlass böten. Der größte Teil des Buches besteht aus den historischen Aufgaben mit den Lösungen des Verfassers.

Die Zeit zwischen 500 und 1200 n. Chr. – Mittelalter in Europa – hat in eben diesem Teil der Welt keine bemerkenswerten Vertreter der Mathematik hervorgebracht – ganz anders offensichtlich in Asien: in China, Indien und im Vorderen Orient. Über die wissenschaftliche Entwicklung in der muslimischen Welt (vor allem in Persien) hat der Autor in seinem Buch „Mathematik – einfach genial“ bereits berichtet. Hier widmet er sich China und Indien, jeweils sechs Wissenschaftler aus der Zeit vom 3. bis 13. Jahrhundert bringt er uns näher. Man staunt, dass schon im 5. Jahrhundert ein Chinese die Zahl π auf sieben Dezimalen genau berechnet hat. Er nutzte die Methode der einbeschriebenen Vielecke, begann vermutlich mit einem Sechseck und muss demnach „die Seitenlänge eines regelmäßigen 12.288-Ecks berechnet haben – eine aus heutiger Sicht unglaubliche Rechenleistung!“. Und der indische Mathematiker Madhava schaffte es im 14. Jahrhundert sogar auf elf Dezimalen. Und dann kommt doch noch ein mir bekannter Inder vor, der berühmte, geniale Srinivasa Ramanujan, der allerdings erst Anfang des 20. Jahrhunderts wirkte. Vielleicht hat er von seinen Vorvätern die rätselhafte Gabe geerbt, komplexe Formeln auf intuitive und offenbar nicht rationale Weise zu finden.

Strick formuliert mehrfach sein Erstaunen darüber, welche mathematischen Ideen und Methoden dort entwickelt worden sind, die teils Jahrhunderte später in Europa wieder entdeckt wurden. Beispielsweise wurden im Zusammenhang mit Kalenderrechnungen lineare Gleichungssysteme gelöst und die Modulo-Rechnung entwickelt. Diese Methode wurde von Euler 500 Jahre später wieder entdeckt und die allgemeine Theorie dazu, heute mit dem Begriff „chinesischer Restsatz“ verbunden, schließlich von Gauß abgeschlossen.

Ob ein Austausch von Wissen zwischen China und Indien und dann weiter auch mit den vorderasiatischen Mathematikern stattgefunden hat, lässt sich nicht im Detail nachweisen – wie der Verfasser schreibt. So bleibt es auch offen, ob und wie umfangreich solche Kenntnisse schließlich nach Europa gelangt sind. Unser Erdteil tritt in die Geschichte der Mathematik erst wieder ein, nachdem durch den Kontakt zu den arabischen Gelehrten die antike griechische Mathematik und die Abhandlungen der islamischen Wissenschaftler in Europa bekannt werden.

Der erste Mathematiker von Rang ist Leonardo von Pisa, heute vor allem durch seine „Kaninchen-Aufgabe“ als Fibonacci und durch die nach ihm benannte Zahlenfolge bekannt. Erstaunlicherweise gerät sein Werk nach seinem Tode in Vergessenheit, erst im 18. Jahrhundert wird es wieder entdeckt. Strick nennt zwei Gründe dafür. Erstens sei Fibonacci seiner Zeit zu weit voraus gewesen, als dass er von Zeitgenossen verstanden wurde. Zweitens konnte sein Buch, „Liber Abacci“, das „heute als eines der wichtigsten Bücher der Mathematikgeschichte Europas gilt“, vor der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern nur manuell kopiert werden und war daher wenig verbreitet. Es ist dem Verfasser ein Anliegen, Fibonaccis umfangreiches Werk ausführlich darzustellen: auf rund 100 Seiten erfahren wir, nach den Originalkapiteln gegliedert, vom Rechnen im Dezimalsystem mit den arabischen Ziffern, von Brüchen und vom Lösen von Dreisatzaufgaben. Viele der ausgewählten Aufgaben variieren dieselben mathematischen Ansätze in verschiedenen kaufmännischen Anwendungsfeldern. Wurzelrechnung, quadratische Gleichungen und lineare Gleichungssysteme zeigen, dass Fibonacci auch über höhere mathematische Kenntnisse verfügt.

Erstaunlich aber ist auf jeden Fall, dass dieses Wissen ohne unsere heutige formale Fachsprache entwickelt wurde. Aufgabenstellung und Lösung werden immer rein verbal formuliert. Selbst eine einfache quadratische Gleichung „x2 + 10x = 39“ lautet bei Fibonacci „census et decem radices equantur 39“ und entsprechend wird der Lösungsweg in Worten formuliert.

Ein „europäisches Erwachen“ stellt der Autor im 15. Jahrhundert fest. Zwei Franzosen, Oresme und Chuquet, zwei Deutsche, Regiomontanus (Johann Müller) und Albrecht Dürer, sowie zwei Italiener Luca Pacioli und Leonardo da Vinci werden beschrieben. Wichtige Grundlage für die weitere Verbreitung mathematischen Wissens waren Übersetzungen antiker und arabischer Schriften ins Lateinische oder noch besser in die Landessprachen. Da Vinci, bekannt als Maler und Ingenieur, und Dürer haben sich durch ihre geometrischen Arbeiten hervorgetan. In Dürers Kupferstich „Melencolia“ weist das magische 4x4-Quadrat auf sein Interesse an Mathematik und seine weitreichenden Kenntnisse hin.

Im 16. Jahrhundert ist Europas Mathematik endlich auf dem neuen Stand der Forschung. Wir erfahren hier von sieben Männern, zwei der Namen dürften in Deutschland bekannt sein, nämlich Adam Ries(e) und Michael Stifel. Ries ist weniger als Wissenschaftler bedeutend, sondern hat als pädagogisch begabter Verfasser von Rechenbüchern in deutscher Sprache einen großen Einfluss auf die Verbreitung des Rechnens mit den arabischen Ziffern. Seine Bücher werden in insgesamt über 100 Auflagen nachgedruckt. „Waren bis dahin die einfachen Leute auf Rechenmeister angewiesen, […] wurden jetzt viele in die Lage versetzt, solche Rechnung selbst durchzuführen“. Stifel hingegen arbeitete eher wissenschaftlich, fasste die damals bekannten Kenntnisse aus Arithmetik und Algebra in einem großen Lehrbuch in lateinischer Sprache zusammen: auch dieses wird „zu den wichtigsten Werken der Mathematikgeschichte gezählt“.

Es fällt mir schwer, einen Adressatenkreis näher zu identifizieren. Es handelt sich doch weniger um ein populärwissenschaftliches Buch für ein breites Publikum, eher um ein wissenschaftliches Werk. Viele Originalquellen hat der Autor recherchiert und die originalen historischen Aufgaben daraus wieder gegeben. Jedes Kapitel enthält ausführliche Quellenangaben, die eine noch weitergehende Beschäftigung mit der Geschichte leicht machen. Strick erhofft sich, dass „dieses Buch das Interesse erweckt, die etwas ausführlicher behandelten Bücher – insbesondere von Leonardo von Pisa, Adam Ries, Christoff Rudolf und Michael Stifel – selbst zu lesen“. Denn, so im Vorwort weiter, bei diesen „wunderbaren, leider oft in Vergessenheit geratenen Einsichten […] kommt man oft aus dem Staunen nicht heraus“.

Diese Rezension ist auch, in gekürzter Form, auf Spektrum.de erschienen.

Rezension: Hartmut Weber (Kassel)