Ian Stewart
Rowohlt Taschenbuch; 1. Edition (13. Februar 2024); Taschenbuch, 432 Seiten; 18 €
ISBN-10: 3499009307
ISBN-13: 978-3499009303
Ian Stewart „ist der beliebteste Mathematik-Professor Groß-Britanniens“, so heißt es im Buch – und das liegt an seinen vielen populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen.
In diesem Taschenbuch befasst er sich mit einer Reihe technischer Errungenschaften, die uns im Alltag umgeben, die aber die meisten Menschen nicht an Mathematik denken lassen. Denn es wird – wie er schreibt – „die Bedeutung der Mathematik in unserer heutigen Zeit leicht unterschätzt, weil fast alles, was sie leistet, im Verborgenen geschieht.“
Einen Teil dieser verborgenen Schätze will der Verfasser in seinem Buch ans Licht bringen. Auch wenn man nicht sehr viel von Mathematik versteht, lohnt es sich, darauf einen Blick zu werfen. Stewart gelingt es meistens, die mathematischen Ideen so zu präsentieren, dass sich auch ein Laie die Funktionsweise vorstellen kann. In seinen Ausführungen zeigt er die Vielfalt der Mathematik. Dass Mathematik so verblüffend nützlich sein kann, ist für ihn in ihrer Schönheit, Allgemeingültigkeit und Übertragbarkeit begründet. Dabei hatte bei der Entwicklung mancher abstrakter Konzepte etwa aus der Topologie, der algebraischen Geometrie oder der Zahlentheorie niemand eine praktische Anwendung vor Augen. „Motivation für diese Entdeckungen bzw. Erfindungen war menschliche Neugier“. Um so überraschender, dass solche Theorien dann Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte später praktische Anwendung fanden.
In jedem Abschnitt des Buches stellt der Verfasser eine solche praktische Anwendung vor und offenbart die ihr zugrundeliegende Mathematik. Eine kennt wohl jeder aus eigener Erfahrung: ein Navigationsgerät, allgemein liebevoll als Navi bekannt, das heute wohl in jedem Auto installiert ist. Hinter diesem Gerät steckt Mathematik aus verschiedenen Bereichen der Geometrie und der mathematischen Physik. Zunächst einmal muss man die Bahnen berechnen können, auf denen die Trägerraketen die Satelliten in den Erd-Orbit bringen, ebenso die Umlaufbahnen der Satelliten selbst, die das Global Positioning System (GPS) beherbergen. Diese müssen so platziert sein, dass an jedem Punkt der Erde zu jedem Zeitpunkt mindestens 6 Satelliten zu sehen sind und deren Signale vom Navi im Auto empfangen werden können. Geometrie und Trigonometrie sind notwendig, um den Standort des Autos zu berechnen. Schließlich verwendet die Software die Gleichungen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, die wegen der hohen Geschwindigkeit der Satelliten und des Einflusses der Erdgravitation für die genaue Ortsbestimmung nötig sind. (Albert Einstein würde staunen, wie seine Entdeckungen heute in jedem Auto den Menschen den Weg weisen.) Die optimale Route findet das GPS schließlich mit kombinatorischen Verfahren, die denen des „travelling salesman problem“ („Problem des Handlungsreisenden“) ähneln. Und all das passiert im Navi in einem kleinen Chip.
Ähnlich bekannt ist heutzutage vielen die Buchstabenkombination JPG, die ein bestimmtes Format von Foto-Dateien kennzeichnet. Digitalkameras oder Smartphones speichern Fotos in der Regel in diesem Format ab. Da die Aufnahmegeräte heute eine sehr hohe Auflösung haben, also aus sehr vielen Bildpunkten (Pixeln) bestehen, würde ein Foto einen sehr großen Speicherplatz beanspruchen, wenn die digitalen Foto-Daten nicht zuvor reduziert werden. Man spricht von Datenkompression. Eine weit verbreitete Methode erfolgt nach dem JPEG-Standard. In fünf Schritten wird das Bild komprimiert, dafür braucht man diskrete Fourier-Analyse (im 19. Jahrhundert entwickelt), Algebra und Codierungstheorie (aus dem 20. Jahrhundert). Und auch hier ist die gesamte Mathematik in die Software der Kamera integriert, die die Daten in Sekundenbruchteilen komprimiert, bevor sie auf die Speicherkarte geschrieben werden.
Andere der behandelten technischen Leistungen sind weit weniger bekannt. So erfahren wir etwa, wie mit topologischen und graphentheoretischen Hilfsmitteln eine effiziente Organisation von Nierentransplantationen erreicht werden kann. Um einen Einblick in dieses Verfahren zu bekommen, entwickelt der Autor für uns die Methode, mit der Leonhard Euler im 18. Jahrhundert das Königsberger Brückenproblem löste. Damit habe Euler quasi „zwei wichtige Gebiete der Mathematik aus der Taufe gehoben“, nämlich „die Graphentheorie, in der es um Punkte geht, die durch Linien verbunden sind“ und „die Topologie, die manchmal auch als Gummilaken-Geometrie bezeichnet wird“. In den knapp 300 Jahren danach haben sich daraus große mathematische Disziplinen entwickelt, mit denen auch das oben genannte Organisationsproblem gelöst werden konnte.
Warum Stewart die historische Entwicklung unseres Zahlensystems von den natürlichen bis hin zu den komplexen Zahlen, vom Zahlenstrahl hin zur Zahlenebene, sehr ausführlich und anschaulich darstellt, wird bei zwei weiteren Anwendungsbereichen aufgeklärt. Die komplexen Zahlen erweisen sich in der Elektrotechnik als in hohem Grade nützlich. Allerdings sind die Erklärungen dazu für technische Laien nicht ganz einfach zu verstehen. Weniger noch wird man die Einzelheiten nachvollziehen können, wenn es um den vorteilhaften Gebrauch der komplexen Zahlen bei der Schrödingergleichung und der Quantenmechanik geht. Die Erweiterung der Menge der komplexen Zahlen gelang dem irischen Mathematiker William Hamilton in der Mitte des 19. Jahrhunderts: diese Quaternionen genannten, quasi vierdimensionalen Zahlen werden heute bei der Herstellung computer-animierter Filme verwendet. Die Beschreibung der dabei verwendeten Methoden verlangt beim Lesen allerdings ein gutes Vorstellungsvermögen. Noch abstrakter wird es bei dem Abschnitt zu neueren Entwicklungen der Topologie. Zwar spricht der Autor von „einem rasant wachsenden Themenfeld, das als angewandte Topologie bekannt ist“, er dürfte aber mit dem dargestellten Konzept der Homologiegruppe wohl viele überfordern.
Ein weiteres der zahlreichen Themen dreht sich um die theoretische Modellierung des Magnetismus. Hier gelingt dem Autor eine wunderbar anschauliche Erklärung der physikalischen Grundlagen des sogenannten Ising-Modells. Und man kann wieder nur staunen, als wie hilfreich sich diese Theorie in Verbindung mit Methoden der fraktalen Geometrie in jüngster Zeit beim Verständnis des Schmelzens des arktischen Eises und damit des Klimawandels erweist.
In dieser Besprechung können nur Schlaglichter auf die von Ian Stewart aus dem Verborgenen geholte Mathematik geworfen werden. Es lohnt sich auf jeden Fall, selbst nach den Schätzen mit den hier versammelten Beispielen zu graben.
Eine Fassung dieser Rezension erschien am 22.4.2024 auf spektrum.de.
Rezension: Hartmut Weber (Kassel)