Genie und Wahnsinn.
Das Leben des genialen Mathematikers John Nash
Sylvia Nasar
Piper, 2002, 584 Seiten, 13,90 €
ISBN: 349223674X
Der Teufel in den mathematischen Paradiesen:
Sylvia Nasars fabelhafte Biografie John Nashs
Dass unser Leben ein ständiger Drahtseilakt ist, wird uns selten bewusst. Dies hat einen guten Sinn, denn Vertrauen in die Stabilität der Umwelt bietet Schutz gegen die allgegenwärtige Angst vor unberechenbaren Veränderungen. Doch wir ahnen auch, dass Veränderung das Gesetz des Lebens ist, dass man auf dem Drahtseil nicht stehen bleiben kann, sondern sich fortbewegen muss. Daher stammt wohl das Interesse an Schilderungen von Bedrohung, in Bildern, Tönen oder Worten, und die Neigung, sich bedrohlichen Situationen auszusetzen, durch physische oder intellektuelle Belastung, durch emotionale Wagnisse oder Drogen. Und aus dieser Spannung entsteht eine fortdauernde Lebensbewegung, ein Pendelschwung zwischen der Basis des Vertrauten und den Pforten des Fremden. So wird Veränderung möglich, ohne die Vertrauensbindung gänzlich aufzugeben; deshalb ist die wellenförmig gewundene Äskulapschlange das Symbol des Lebens. Die Wellenbewegung beginnt mit einem raschen Aufstieg, dem ein ebensolcher Abschwung folgt, und sie vollendet sich – mutatis mutandis – in der Rückkehr zum Anfangszustand. Damit ist auch eine Erzählform beschrieben, die seit der Odyssee ihre Zuhörer in den Bann schlägt.
Die Lebenskurve des 1928 geborenen Mathematikers John Nash folgte diesem Muster mit einer dramatischen Übersteigerung, wie sie kein Schriftsteller hätte erfinden dürfen. Er wächst auf in Bluefield, einer aufstrebenden Industriestadt in den Appalachen, als Kind gleichermaßen aufstrebender Eltern, eines Elektroingenieurs und einer Lehrerin. Nash ist kein Wunderkind, doch er zeigt früh ungewöhnliche intellektuelle und praktische Fähigkeiten; genauso früh zeigt sich ein Hang zu selbstgenügsamer Isolation. Er verlässt Bluefield, um sein Berufsziel am Carnegie Institute of Technology in Pittsburgh zu verfolgen, er will Elektroingenieur werden wie sein Vater.
Obwohl sein Interesse an der Mathematik bereits erwacht war, vermutlich durch die Lektüre von E.T. Bells Bestseller ,,Men of Mathematics'' – der erstmals die Größen der Mathematikgeschichte heroisierte –, galt das Berufsbild des Mathematikers noch als ebenso exotisch wie das des Konzertpianisten. Doch der Umgang mit den Wissenschaften treibt ihn innerhalb eines Jahres von der Chemie, deren Praxis ihn in der Schule gereizt hatte, zur intellektuell allein befriedigenden Mathematik. Er wird ein brillanter Student, ein alle überragender Problemlöser, aber in zwei Versuchen gelingt es ihm nicht, im jährlichen nationalen Mathematik-Wettbewerb unter die ersten fünf in seiner Altersgruppe zu kommen; dieses ,,Versagen'' wird ihn sein Leben lang schmerzen.
Das Graduierten-Studium beginnt Nash 1948 in Princeton, durch wissenschaftliche Giganten wie Albert Einstein, John von Neumann und Kurt Gödel zum ,,mathematischen Zentrum des Universums'' geworden. Eine selbstbewusste Aufbruchsstimmung war unter den Mathematikern in den Kriegsjahren entstanden, die jeden Neuankömmling ergriff und in einen unablässigen Wettbewerb um neue Ideen hineinzog. Zum ersten Mal spricht Nashs Genie ganz unmissverständlich, in zwei Beiträgen zur Spieltheorie, einer noch jungen mathematischen Disziplin, die von Neumann begründet und populär gemacht hatte als eine universelle Methode zur Analyse des menschlichen Sozialverhaltens.
Die 27 Seiten lange Dissertation, die Nash mit 21 Jahren vorlegt, wird sich als außerordentlich revolutionär erweisen und ihm 44 Jahre später den Nobelpreis einbringen. Doch diese ersten unzweifelhaften Erfolge werden noch nicht einhellig bejubelt, weil sie ihrer Zeit voraus sind. So wird der Drang nach Anerkennung nicht gestillt, der Nash umtreibt. Sein Sozialverhalten ändert sich nicht – bis zur Zeit in Princeton hat Nash keinen engeren Freund gefunden; seine ersten emotionalen Regungen tragen jetzt homoerotische Züge und begründen keine dauerhaften Beziehungen.
Doch als Mathematiker ist John Nash zur Reife gekommen; mit einer geradezu störrischen Zurückweisung fremder Gedanken stürzt er sich nun auf schwierigste Probleme in der algebraischen Geometrie, der Differenzialgeometrie und der Hydrodynamik. Die höchste Auszeichnung der Mathematik, die mit viel Ehre verbundene Fields- Medaille, scheint ihm sicher. Nash wird Assistant Professor am Massachusetts Institute of Technology; seine Freundschaften haben sich inzwischen auf Frauen ausgedehnt und durchaus nachhaltig: Mit der ersten Geliebten, die er geheim hält und nicht heiraten will, hat er einen Sohn, die zweite, Alicia, heiratet er ohne langes Zögern, wohl weil sie eher seinen sozialen und intellektuellen Ansprüchen genügt. Nebenbei gibt es aber immer wieder auch junge Männer, die ihn interessieren. Doch die Beziehung zu Alicia ist glücklich, Nash scheint im Begriff, mit 30 Jahren die sozialen und emotionalen Störungen seiner Jugend hinter sich zu lassen – als der Absturz beginnt.
Das Preiskomitee verweigert ihm eine Fields-Medaille, wenn auch nach harten Diskussionen. Sein seit je exzentrisches Verhalten nimmt Züge an, die niemand mehr begreift: Er wähnt sich berufen, als einziger menschlicher Agent außerirdischer Wesen die Welt zu retten, und er verkündet diese Botschaft unablässig. Als er zu einer Bedrohung wird, bleibt nur noch die Klinik; die Fachleute diagnostizieren Schizophrenie.
Doch das ist nicht der Untergang des John Nash; seine Lebenskurve vollzieht den Wiederaufschwung – bis zu den Höhen des Nobelpreises und eines glücklichen Familienlebens. Wer bis hierhin mit Interesse gelesen hat, der sollte es sich nun nicht nehmen lassen, die ganze Geschichte in Sylvia Nasars fabelhaftem Buch ,,A Beautiful Mind'' nachzulesen, notfalls auch in der nicht so fabelhaften deutschen Übersetzung von Cäcilie Plieninger und Anja Hansen-Schmidt, die mit dem verqueren Titel ,,Auf den fremden Meeren des Denkens'' so tiefsinnig daherkommt, dass man unwillkürlich zurückscheut.
Sylvia Nasar versteht es, mit wenigen Sätzen zutreffende intellektuelle Porträts der wichtigsten Personen zu zeichnen, und selbst den notorisch schwierigen mathematischen Inhalten nähert sie sich mit Mut und Geschick. Ihr nüchterner Stil korrespondiert zu der äußerst soliden Recherche und formt zugleich den einfachen chronologischen Bericht zu einer meisterlichen Erzählung, in der uns der sozial inkompetente Geistesheld genauso berührt wie der in sich zusammengestürzte Geisteskranke.
Der große Erfolg von Nasars Buch in den USA hat die Verfilmung gleichsam herausgefordert – trotz der schwierigen Profession des Hauptdarstellers. Denn wenn auch der Beruf des Mathematikers mittlerweile alles Exotische verloren hat, so gilt das doch noch nicht in der künstlerisch geformten Welt von Literatur, Leinwand oder Theater. Indes verzeichnen wir ermutigende Veränderungen; sie verdanken sich vielleicht der Einsicht, dass es das abstrakte, das mathematische Denken ist, das uns am wirkungsvollsten aus dem Kreis des Gewohnten hinausträgt. Freilich lehrt uns das Beispiel des John Nash auch, dass wir uns in den mathematischen Paradiesen nicht verlieren dürfen, denn auch der Teufel hat Zugang zu ihnen: Die Außerirdischen, die John Nash zu hören und zu sehen glaubte, schöpfte er aus derselben Quelle, aus der seine wunderschönen mathematischen Erfindungen flossen. Mit Wellenbewegungen sollten wir uns also zufrieden geben.
(Rezension: Jochen Brüning, erschienen am 28. 2. 2002 in der SZ)