euler and bernoulli

Leonhard Euler and the Bernoullis

Margaret B.W. Tent
Taylor & Francis Ltd. (August 2009), 276 Seiten, 20,99 €

ISBN: 978-1-56881-464-3

Ähnlich wie die Bach-Familie in der Musik nimmt die Basler Familie Bernoulli in der Mathematikgeschichte einen herausragenden Platz ein: sie (d. h. insbesondere die Brüder Jakob und Johann Bernoulli sowie Johanns Sohn Daniel) bestimmt im späten 17. Jahrhundert und über das gesamte 18. Jahrhundert wesentlich die Geschichte der Mathematik. Von der Mathematik des 18. Jahrhunderts zu sprechen bedeutet aber auch, von Leonhard Euler, dem Schüler Johann Bernoullis, zu sprechen. Damit weist der Titel des Buches ,,Leonhard Euler and the Bernoullis“ auf ein außerordentlich interessantes Thema hin, das mehr als nur Mathematik umfassen kann. Sieht man von den entsprechenden gesammelten Werken ab, so gibt es zwar hinreichende biographische Literatur zu Euler (auch in Englisch), aber weniger zu der Bernoulli-Familie.

Das vorliegende Buch ist offenbar weder für Mathematiker noch Mathematikhistoriker geschrieben, denn dazu ist die behandelte Mathematik zu elementar, und die historischen Sachverhalte sind mehr oder weniger allgemein bekannt (wobei die Autorin keine Quellen nennt, selbst Briefe werden undatiert zitiert). Fragen wir also mit dem römischen Schriftsteller Flaccus ,,Quis leget haec“ (Wer wird das lesen?). Der Klappentext nennt jugendliche Leser und ergänzt, daß sicherlich ein allgemeiner Leserkreis (general audience) hieran interessiert sein dürfte. Allerdings bekennt die Autorin selbst, daß Euler den Amerikanern (nur ihnen?) bestenfalls aus Kreuzworträtseln bekannt ist, geschweige denn wohl die Bernoullis. Im Hinblick auf Kehlmanns überraschenden Erfolg mit seinem Gauß-Buch und die Vermarktung Eulers durch einen Comic ist jedoch bei einer Prognose über den Absatz sicherlich Vorsicht geboten.

Die Autorin geht von bekannten Sachverhalten aus und füllt die Lücken durch fiktive Gespräche, die aus meiner Sicht weniger dem Geist des 18. Jahrhunderts entsprechen, sondern das amerikanisches Alltagsenglisch widerspiegeln, denn fast alles ist ,,great“ und bestens oder wenigstens brillant erscheinend. Diese eingefügten Dialoge betreffen vor allem zwei Dinge, die in ihren Wiederholungen ermüden: die Protagonisten erklären sich Probleme oder begeistern sich an mathematischen Techniken (etwa der Potenzschreibweise!), wobei ständig Sätze wie ,,I like it“ fallen, oder die Väter sprechen in einfacher Psychologie mit den Söhnen über die Berufswahl, wobei sich die Bernoullis mit stereotypen Argumenten als höchst autoritär erweisen (wiewohl ein ,,Hrmmmmmpf!“ vom ,,barking“ oder ,,grumbling“ Vater Bernoulli seinen Reiz hat, S. 30). Solche Gespräche werden wohl auch ,,gifted young adults“ nicht inspirieren. Merkwürdig, daß sich Jakob als späterer reformierter Pfarrer (Zwingli, Calvin) gerade auf Martin Luther als Kronzeugen beruft, S. 65. Als Vater wünschte ich mir in den Berufsgesprächen wenigstens einmal einen Hinweis wie diesen, daß der Vater der Brüder Jakob und Johann bis zum zehnten Kind zu warten hatte, ehe er schließlich im jüngsten Sohn einen Nachfolger für sein Geschäft fand. Andererseits ist im Buch das zielstrebige Verlangen der Söhne gegen den Willen der Väter, Mathematiker zu werden, auch ein aus heutiger Sicht aufgemachtes Problem, das außer Acht läßt, daß es weder (modern gesprochen) Studienabschlüsse noch in der Regel eine begründete Aussicht gab, mit dieser Wissenschaft (nicht als Rechenmeister!) seinen Lebensunterhalt zu verdienen (abgesehen davon, daß man damals unter Mathematik etwas anderes als heute verstand). Der schockierende Sachverhalt, daß Johann in dieser Angelegenheit vom Vater schlecht behandelt wurde, es aber in gleicher Weise bei seinem Sohn Daniel praktiziert, bleibt leider undiskutiert.

Wenn man sich der schriftstellerische Freiheit bedient und seine Stimme herausragenden Mathematikern leiht, dann sollte man das bekannte ,,accurate historical szenario“ (so der Umschlagstext) respektieren. Das wird zwar von der Autorin versichert, aber nicht konsequent eingehalten. Leider gibt es immer wieder Passagen, in denen ungewisse Sachverhalte durch die Logik der Autorin als faktisch hingestellt werden. Während solche Glättungen vielleicht in den erzählerischen Passagen zu rechtfertigen sind, läßt sich in historischen Abschnitten das Ignorieren bekannter Tatsachen nicht mehr hinnehmen. Häufig wird nur die Hälfte einer Geschichte erzählt (beispielsweise werden beim Königsberger Brückenproblem zwar die Regeln hingeschrieben, aber die einfachen Argumente, welche die Regeln einsichtig machen, fehlen; zudem wird behauptet, daß Euler das Problem seit 1727 bearbeitet habe, aber es war erst ein Brief des Königsberger Bürgermeisters an die Petersburger Akademie, der 1735 zur Behandlung führte) bzw. alte Vorurteile werden aufgewärmt (bei Euklid sind Geraden keine ,,Mengen“ von Punkten, S. 78, ebenso wie Descartes kein (kartesisches) Koordinatensystemoder eine analytische Geometrie im unserem Sinne benutzte; natürlich hat Descartes negative Zahlen benutzt, aber in der Geometrie sind bekanntlich negative Größen nicht möglich, S. 62).

Natürlich muß man bei einer populären Darstellung der Mathematikgeschichte Kompromisse machen, die sicher jeder anders vornehmen wird. Aber trotzdem gibt es gute und allgemein akzeptierte Darstellungen, wie etwa die von Egmont Colerus (um wenigstens ein Beispiel zu nennen), die, selbst wenn sie älter als ein halbes Jahrhundert sind, mehr bieten als einschlägige Stellen in diesem Buch, in dem vieles mit leichter Hand erzählt wird: die Bezeichnung f(x) ist weder von Leibniz, S. 82, noch von einem Bernoulli, sondern von Euler; Newton benutzte in den Principia keine Fluxionsrechnung, S. 83 (höchstens einmal in einem Lemma versteckt). Offenbar werden Kettenlinien- und Brachistochronenproblem verwechselt, S. 100, wobei die Behauptung, daß Johanns brillante Löung des Brachistochronenproblems keine Folgen für die weitere Entwicklung der Mathematik hätte, ein erschreckendes Unverständnis zeigt: Beginn der mathematischen Physik durch eine übergreifende mathematische Formulierung unterschiedlicher physikalischer Probleme, Entwicklung der Variationsrechnung bis zu hinreichenden Bedingungen für Lösungen, Wurzel des analytischen Funktionsbegriffs und einiges Andere mehr, was allein schon Eckstein in einschlägigen Mathematikgeschichten zu sein hätte! Entschlossen wird das Vorurteil, daß Euler der Mathematik mehr als Experimenten vertraute, wiederholt (S. 162), aber diese Sache ist z.B. bei der Bemastung von Schiffen längst widerlegt. Manches ist nicht konsistent: auf S. 61 ist Hudde ,,the formemost mathematician“ in Holland, zwanzig Seiten später erinnert sich die Autorin an Huygens und bezeichnet diesen nun als ,,the most important mathematician of his time“, und jedesmal bleiben Leibniz oder Newton auf der Strecke.

Englisch ist als Wissenschaftsprache heute dominant. Amerikanische Autoren tun sich daher häufig schwer, fremdsprachige Literatur zur Kenntnis zu nehmen. Auch hier sind die zum in Rede stehenden Thema umfangreich vorliegende französische, russische und deutsche Arbeiten nur ungenügend ausgewertet. Einige Ungereimtheiten: N. Bernoulli sagt über J. Hermann ,,I like him very much“, und D. Bernoulli stimmt zu, S. 153. Tatsache aber ist, daß sich diese Brüder mit Hermann an der St. Petersburger Akademie derart erbittert gestritten haben, daß es hierüber eine Akte im Petersburger Archiv gibt. Von dem Kettenlinienproblem auf hyperbolische Geometrie (vor Lobatschewski oder Bolyai, S. 100) zu kommen, ist problematischer als von Kristiania als Oslo (seit 1924) zu reden oder über den Gebrauch des Zeichen π vor Euler, den er erst durch seine Autorität verbindlich machte. Mich wundert auch, woher die Autorin ihre Kenntnisse über die Sprachfähigkeiten der jeweiligen Personen hat: die Bernoullis hatten keinerlei Schwierigkeiten beim Erlernen der deutschen Sprache, als sie nach Frankfurt auswanderten; Euler sprach ,,schön“ französisch (was er erst im französisch ,,dominierten“ Preußen zu können und zu lernen hatte), er war angeblich der einzige am preußischen Hof, der russisch sprach (bei der ostpreußischen Nähe zum Zarenreich ist die Behauptung etwas verwegen; der vormals in russischen Diensten stehende General Manstein, dann zu Friedrichs Militärs gehörig, ist bereits ein Gegenbeispiel). Grundsätzlich wäre Euler wie viele seiner Kollegen in St. Petersburg ohne Russischkenntnisse ausgekommen, weil bei Hofe und an der Akademie deutsch, französich und lateinisch üblicher als russisch waren, S. 166.

Das Buch ist gut gedruckt und gebunden, aber die Qualität einiger Bilder läßt sehr zu wünschen übrig (z.B. auf S. 114, 136 oder 234), abgesehen davon, daß das Bild auf S. 151 keinesfalls Ch. Goldbach zeigt (was bedauerlich ist, weil hier erstmals ein Goldbachporträt zu sehen wäre).

Die Verbindung romanhafter Elemente mit ungenügend recherchierten bzw. unzureichend dargestellten historischen und mathematischen Sachverhalten überzeugte mich nicht. Die Absicht der Autorin, über ein spannendes und wichtiges Thema der Mathematikgeschichte zu schreiben, bleibt weiterhin eine herausfordernde Aufgabe für Mathematikhistoriker.

Rezension: Rüdiger Thiele, Halle

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, April 2010, Band 57, Heft 1, S. 142
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.