The Mathematician Sophus Lie

The Mathematician Sophus Lie
It was the Audacity of my Thinking

Arild Stubhaug
Springer-Verlag, 2001, 600 Seiten, 42,75 Euro

ISBN: 3540421378

Hält man sich vor Augen, über wie wenig Mathematiker Biographien geschrieben wurden, kommt man ein wenig ins Nachdenken. Dass die erste umfassende Biographie von Sophus Lie erst im Jahr 2000, d. h. über 100 Jahre nach seinem Tod, zunächst in norwegischer Sprache, und jetzt in englischer Übersetzung erschien, ist bei der Bedeutung von Lie und seines mathematischen Werks doch etwas überraschend.
Ich muss allerdings eingestehen, dass sich mir, als ich das sorgfältig und mit Liebe aufgemachte Buch zum ersten Mal in Händen hielt, die Frage aufdrängte, wen denn dieses Buch interessieren könnte. Beim ersten Lesen ertappte ich mich oft dabei, dass ich Passagen, die nicht unmittelbar mit seiner Tätigkeit als Mathematiker zu tun hatten, diagonal las oder zu überspringen suchte, in der Hoffnung eingeweiht zu werden in eine Gedankenwelt, der die bahnbrechenden neuen, partielle Differentialgleichungen und Geometrie vereinenden Ideen entsprangen, die zur Theorie der Transformationsgruppen führten.
Das fand ich zwar nicht: Wie in der Biographie über N.H.Abel vom gleichen Autor (siehe die Besprechung von E. Behrends) ist auch dieses Buch von Stubhaug ohne eine einzige Formel oder präzise mathematische Definition. Was aber Stubhaug uns durch seine umfangreichen Nachforschungen, hauptsächlich in Briefen Lies an seine Frau, an seine Freunde in Norwegen und Briefe an und von seinen Kollegen, mitteilen kann, lässt in vielen Einzelheiten, Stück für Stück, ein breiteres Bild von Lie, der wissenschaftlichen und politischen Situation Norwegens zu Lies Zeit, und des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens an Lies Wirkungsstätten entstehen.
Die Darstellung, in der zum Teil die Inhalte einer Reihe von Briefen nacheinander auch mit Hilfe kurzer Zitate referiert werden, birgt die Gefahr der Ermüdung. Dem entgeht Stubhaug einmal durch seinen angenehmen Erzählstil, zum anderen durch gelegentliche Unterbrechungen, in denen der zeitliche und geschichtliche Hintergrund angesprochen wird. Jedenfalls fiel mir auf, dass ich mit wachsender Neugierde die zu Beginn überflogenen Stellen eine nach der anderen wieder aufsuchte und mit Interesse las. Manche Passagen geben, sozusagen aus erster Hand, einen Einblick in die Atmosphäre damaligen Universitätslebens. So schreibt Lie, als er zum ersten Mal in Berlin weilte: "In Germany, Berlin Professors constitute an Aristocracy of the Sciences that considers itself to possess all of the World's Wisdom... Contrary to Conditions in several lesser German Universities, it is considered particularly difficult to get personally into Touch with the above-mentioned Gentlemen... When such an Opportunity does arise, one feels like one is standing before a King of the Realm of the Sciences." Auch der "Kampf" zwischen Reiner und Angewandter Mathematik tobte schon damals. Verfechter des Standpunkts, dass eine Unterscheidung zwischen Reiner und Angewandter Mathematik nicht sinnvoll ist, hatten auch damals einen schweren Stand. Das Zitat aus einem Brief von Bjerknes, in dem er Sylow über den für Sylow negativen Ausgang eines Berufungsverfahrens informiert und mit Bedauern schreibt: "People have so little possible use for the likes of You and I. Even if there would an Abel be lodged inside you, it would make no difference." erinnert mich an manche Warnung aus jüngerer Zeit. Auch dass Lie von gewissen Kreisen nicht als richtiger Professor anerkannt wurde, da er vom Parlament und nicht der Regierung bestellt wurde, ist ein merkwürdiges Detail der norwegischen Geschichte.
Das Buch bringt allen großen Gewinn, die sich für Sophus Lie und seine Zeit interessieren. Insbesondere erfährt man viel über den wissenschaftlichen Kontakt zwischen Lie und anderen mathematischen Größen der damaligen Zeit wie Klein, Kummer, Study, Darboux, Poincaré und anderen. Wen die mathematischen Ideen Lies interessieren, der kommt nicht umhin, sich mit dessen Arbeiten auseinanderzusetzen, um dann in Verbindung mit Stubhaugs Buch vielleicht doch etwas von der "audacity of my [Lie's] thinking" zu erblicken.

P.S. Man sollte vielleicht auch erwähnen, dass das Buch im Vergleich zu Mathematikbüchern, die ähnlich aufwändig gestaltet sind, außergewöhnlich preiswert ist.

(Rezension: Elmar Vogt)