imhausen

Ägyptische Algorithmen
Eine Untersuchung zu den mittelägyptischenmathematischen Aufgabentexten

Annette Imhausen
Harrassowitz Verlag (2003), 387 Seiten, 58,00 €

ISBN: 3-447-04644-9

Es war ein einschneidendes Erlebnis, als mir im Alter von wohl 12 Jahren in der Wohnung einer Freundin meiner Eltern C.W. Cerams „Götter, Gräber und Gelehrte“ in die Hände fiel. Ich war verschreckt von den Bildern der Mumie Tutenchamuns (und erinnere mich, tatsächlich einige Nächte nur sehr schlecht geschlafen zu haben), aber las mich sofort in den spannenden Beschreibungen der Entdeckungen des alten Ägyptens fest. Damit war der Appetit geweckt; das Buch kam dann als Geschenk zum nächsten Geburtstag und mein Berufswunsch „Ägyptologe“ stand für die nächsten Jahre fest. Und obwohl die Mathematik später größere Anziehungskraft auf mich hatte, habe ich der Liebe zur Ägyptologie nie entsagt und nun blicken, in Paraphrasierung eines berühmten Napoleonischen Wortes beim Anblick der Pyramiden von Gizeh, mehrere Regalmeter Ägypten auf mich herab.

Die Publikationen in meinem Regal zur Mathematik der Ägypter sind die Ausnahme. Natürlich Neugebauer, aber der hatte das gesamte Gebiet als wenig fruchtbar schnell zur Seite gelegt und sich lieber mit mesopotamischer Astronomie beschäftigt. Die jüngste Publikation zur altägyptischen Mathematik in meinem Besitz ist Gillings’ „Mathematics in the Time of the Pharaos“ aus dem Jahr 1972. Nach dieser Zeit weiß ich noch von ein paar französischen Publikationen; gesehen habe ich diese nicht, und natürlich Clagetts „Ancient Egyptian Mathematics“ aus dem Jahr 1999.

Wo liegen die Probleme auf diesem Gebiet der Mathematikgeschichte und warum kann Annette Imhausen ein fast 400seitiges neues Buch produzieren? Das evidenteste Problem ist das Problem der Quellen. Der ägyptische Sand ist seit langer Zeit durchwühlt worden; die Gräber im Tal der Könige sind alle bekannt und die Hoffnung, jetzt noch neue Papyri mit mathematischem Inhalt zu finden, sind verschwindend gering. Auch im alten Ägypten hat es sintflutartige Regenfälle gegeben. Gräber und Tempelanlagen wurden häufig überschwemmt. Unter diesen Umständen ist es verwunderlich, dass überhaupt einige Papyri (noch dazu mit mathematischem Inhalt) die Zeiten überdauert haben. Ein weiteres Problem stellt die hieratische Schrift dar, in der die Papyri in der Regel beschrieben wurden. Hieratisch ist eine Schrift um die statischen Hieroglyphen zu vermeiden und ein für die Hand flüssigeres Schreiben zu ermöglichen. Wie alle Handschriften ist hieratisch nicht leicht lesbar und je nach Länge eines Häkchens oder Schleifchens kann ein Symbol schnell eine andere Bedeutung erlangen.

Neue Papyri kann natürlich auch Imhausen nicht präsentieren, aber ihr Ansatz ist doch interessant und lässt auf eine Wiederbelebung der Geschichte der ägyptischen Mathematik durch Imhausen hoffen, so wie die babylonisch/mesopotamische Mathematik durch Eleanor Robson in den letzten Jahren wieder zu Ehren gekommen ist. Unter dem Gesichtspunkt der algorithmischen Mathematik wirft Imhausen einen frischen Blick auf alte Papyri und deren Sitz im Leben, wie die Autorin schreibt. Obwohl mir im allgemeinen das Kontext-Getue mehr auf die Nerven geht, als dass es mich erhellt, ist mir der Imhausensche Sitz im Leben außerordentlich gut bekommen. Die rein bürokratischen Papyri – Tafeln für Lagerhaltung, etc. – werden von vorneherein ausgeschlossen; Imhausen geht es um diejenigen mit wirklich mathematischem Inhalt, und das sind so viele nicht. Die These des Werkes, das eine überarbeitete Version der Imhausenschen Dissertation ist, dass ägyptische Mathematik im Kern algorithmische Mathematik ist, wird im Hauptteil des Buches durch unzählige Beispiele belegt. Verschiedene Typen von Aufgaben werden identifiziert und definiert; eine algorithmische Lesart der auf den Papyri gegebenen Lösungen ermöglicht es der Autorin sogar, wirklich neue Gesichtspunkte zu entdecken, wie etwa die Klärung der Frage nach Aufgaben, in denen die Regula Falsi verwendet wird. Alle von Imhausen behandelten Papyri sind – und das ist in Kreisen von Ägyptologen die vorherrschende Praxis – in Hieroglyphenschrift übertragen worden und vom Verlag mit Expertise gesetzt worden. Damit wird das Werk zu einem einzigartigen Handbuch: Ganz egal, ob man eine wissenschaftlich saubere Darstellung der ägyptischen Papyri sucht, oder ob man sich über das Material für Unterrichtszwecke informieren möchte – Imhausens Buch lässt den Leser in keiner Weise im Stich. Obwohl Neugebauers melancholischer Einschätzung1

Egypt provides us with the exceptional case of a highly sophisticated civilization which flourished for many centuries without making a single contribution to the development of the exact sciences.

nach wie vor wenigstens im Kern zuzustimmen ist, zeigt das vorliegende Werk, wie wichtig ein frischer Blick und ein neuer Ansatz sein kann, um alte Quellen neu zu lesen und zu entdecken. Man kann auf weitere Publikationen von Imhausen zum Thema „Ägyptische Mathematik“ nur gespannt sein.

1 O. Neugebauer – A History of Ancient Mathematical Astronomy, Vol. II (Springer) 1975, S. 559.

Rezension: Thomas Sonar, Braunschweig

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Oktober 2006, Band 53, Heft 2, S. 264
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags