Der Weg der Wissenschaft im Labyrinth der Kulturen
Daniela Wuensch
Termessos (2008), 139 Seiten, 19,95 €
ISBN: 978-3-938016-10-7
Dieses kleinformatige Büchlein habe ich an einem regnerischen Nachmittag mit wachsender Begeisterung verschlungen. Worum geht es? Die Wissenschaftshistorikerin Wuensch hat am 26. Oktober 2007 aus Anlass eines Vortrages an der Technischen Universität Berlin ein ungewöhnliches Thema aufgegriffen, nämlich die Beantwortung von sieben für die Wissenschaftsgeschichte essentielle Fragen. Diese Fragen sind: „Warum entwickelten sich erfolgreiche exakte Wissenschaften nur in der abendländischen Kultur?“, „Was ist das Spezifische an der abendländischen Wissenschaft“, „Warum gelang es den antiken griechischen Wissenschaftlern nicht, das Problem der Bewegung zu lösen?“, „Welcher ist der Zusammenhang zwischen Mathematik und Physik in der Entwicklung der exakten Wissenschaften?“, „Gibt es eine Verbindung zwischen der Physik und der Philosophie, die auf der internen, inhaltlichen Ebene der Entwicklung der Physik erkennbar ist?“, „Welche Rolle spielt die Aufstellung einer neuen Theorie der wissenschaftlichen Revolutionen?“ und „Welche ist die Zukunft der abendländischen Wissenschaft?“. Da im Rahmen eines Vortrages die Zeit nicht reicht, um auf alle diese Fragen eingehen zu können, liegt mit diesem Buch eine Ausarbeitung des Vortrags vor.
Frau Wuensch sieht mit großer Sorge, dass die Wissenschaftsgeschichte als universitäres Fach in unserem Land auf dem Rückzug ist und ich teile diese Sorge zunehmend. Professuren für Wissenschaftsgeschichte wurden in der vergangenen Dekade gestrichen und selbst die Universität Hamburg scheut sich zur Zeit nicht, das renommierte Institut für die Geschichte der Naturwissenschaften und Mathematik (IGN) durch gezielte Stellenstreichungen zu zerschlagen. In den USA und in neuerer Zeit auch in Großbritannien geht man einen anderen Weg. Hier wird die Wissenschaftsgeschichte als unverzichtbares Fach an zahlreichen Universitäten gefördert und wissenschaftshistorische Vorlesugen gehören als Pflichtveranstaltungen zu der Ausbildung von Naturwissenschaftlern, Ingenieuren und Mathematikern dazu.Warum sind wir als Kultur- und Wissenschaftsnation ersten Ranges so blind gegen über der Wissenschaftsgeschichte? Dieser Frage detailliert nachzugehen hat sich Wuensch im vorliegenden Buch zur Aufgabe gemacht. Wuensch fordert zu Beginn mit Fug und Recht eine neue Kulturtheorie ein, in der auch die exakten Wissenschaften eine ihnen angemessene Rolle spielen. Die Autorin führt als rühmliche Ausnahmen die Kulturtheoretiker Oswald Spengler und Max Weber an, aber deren Ansätze greifen noch zu kurz, denn eine adäquate Kulturtheorie hat auch die Beziehungen zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften zu klären.
Der Erfolg der Physik in der abendländischen Gesellschaft hängt ganz wesentlich an der Mathematik, aber nicht nur in dem Sinne, dass man Mathematik zur Beschreibung der physikalischen Vorgänge verwendet. Wuensch arbeitet sehr schön heraus, dass es um die Mathematik als erkenntnistheoretisches Werkeug für die Naturwissenschaften geht. Die Beantwortung der für die Physik zentralen Frage: „Was ist Bewegung?“ wurde erst möglich, als Galileo Galilei in einer Verbindung von Platonischem und Aristotelischem Gedankengut die Mathematik als Mittel der physikalischen Erkenntnis erkannte. In diesem Sinne charakterisiert Wuensch die Biologie als eine vor-galileische, ja, sogar vor-archimedische Wissenschaft, denn sie hat ihre sie als mathematisierte Wissenschaft konstituierende Frage „Was ist Leben?“ noch nicht beantwortet und befindet sich auf einer empirischen Stufe. Die Verwendung von Mathematik oder mathematischer Sprache zur Aufstellung von Modellen oder zur Simulation reicht nicht, um von einer mathematisierten Wissenschaft zu sprechen.
Ich will an dieser Stelle nun nicht die Inhalte dieses Büchleins vorwegnehmen, sondern Sie auffordern, selbst zu lesen und sich mit den Thesen der Autorin auseinander zu setzen. Es lohnt sich ungemein. Der Text des Berliner Vortrages ist dem Buch in blauem Druck beigegeben, wie auch eine zusammenfassende Besprechung der wichtigsten Fragen, die nach dem Vortrag im Berliner Auditorium auftraten. Beigegeben ist ebenfalls eine Bibliographie, Kurzbiographien der im Buch erwähnten Personen und ein Register. Ich halte dieses Buch für einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Wissenschaftsgeschichte und ihrer Probleme in unserer Gesellschaft und wünsche ihm eine möglichst große Verbreitung. Der Autorin, die bereits anderweitig gezeigt hat, dass sie eine hervorragende Wissenschaftshistorikerin ist1, ist für dieses erhellende Buch nur zu danken. Der Verlag hat das Buch in gewohnter Weise liebevoll ausgestattet, so dass es sich ganz wunderbar als Geschenk eignet. Gerade die Kreise, die heute Stellen für Wissenschaftsgeschichte blauäugig und rücksichtslos streichen und meinen, eine exakte Wissenschaft habe nichts mit ihrer Geschichte zu tun, wären mit diesem Buch hervorragend bedient. Aber werden sie es lesen?
Rezension: Thomas Sonar, Braunschweig
1Man lese die Rezensionen zu anderen Büchern der Autorin, z.B. in: Mathematische Semesterberichte 54 (2007), in: Physik in unserer Zeit 38 (5/2007), in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 28 Nr .4 (2005).
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, September 2008, Band 55, Heft 2, S. 253
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags