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Die phantastische Geschichte der Analysis
Ihre Problemeund Methoden seit Demokrit und Archimedes. Dazu die Grundbegriffe von heute

Hans-Heinrich Körle
Oldenbourg Wissenschaftsverlag (2009), 231 Seiten., 24,80 €

ISBN-10: 9783486588255
ISBN-13: 978-3486588255

Hans-Heinrich Körle,Mathematikprofessor an der Universität Marburg und jetzt a.D., ist ein mit Sprachwitz und tiefer fachlicher Einsicht gesegneter Autor. Seine 2001 im Shaker-Verlag erschienenen Erinnerungen PHILIPPINAs Lebens-Wandel: Erinnerungen eines Marburger Mathe-Profs sollten in diesen vor Reformwollust rasenden Zeiten zur Pflichtlektüre in den Forschungs- und Kultusministerien und in den Präsidien/Rektoraten unserer Universitäten werden. Aber hier ist ein anderes Buch zu würdigen. „Die Hochschulpraxis verstellt leider oft den Blick auf das, was hinter all den Begriffen, Methoden und glatten Lehrsätzen steht. Rück-Sicht auf deren Vorgeschichte – ein Luxus? Macht man sie gelegentlich lebendig, kommt das sicher der Motivation zugute, deren besonders jene bedürfen, die selbst einmal Schüler begeistern sollen.“, schreibt der Autor im Vorwort (S. ix), das er – sehr sympathisch! – „Einladung“ nennt.

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert, wobei der erste Teil mit „Zeiten und Zeitgeister“, der zweite mit „Aus Schatztruhe und Trickkiste“‚ überschrieben ist. Zwischen den beiden Teilen finden wir eine Zeittafel der dramatis personae. Auf den etwa 80 Seiten des ersten Teiles durchstreift der Autor die Geschichte der Analysis von der griechischen Antike über Newton und Leibniz bis ins 19. Jahrhundert in relativ kurzen Ausflügen. Die Ausflüge sind zu kurz, um wirklich eine kohärente Geschichte der Analysis zu sein, aber das Ziel des Autors ist auch nicht eine vollständige Geschichte der Analysis! Insbesondere der „Anfänger“, also Studierende der Mathematik im ersten Studienjahr, soll eine Orientierung über das Werden der Analysis und die Hintergründe so mancher Entwicklung erhalten. Das im Vordergrund stehende Anliegen des Autors ist der aktuelle „ Bezug“ (S. x) und hier entfaltet das Buch seine eigentliche Stärke. Der aktuelle Bezug ist die moderne Analysis, wie sie heute an Universitäten gelehrt wird und Körle hat stets ein Auge auf die Themen einer Anfängervorlesung im Fach Analysis. Erst im zweiten Teil des Buches werden historische Beweise mit der Hilfe moderner Bezeichnungen präsentiert, und zwar geht es exemplarisch um wichtige Kernthemen der Analysis: Die Eudoxossche Proportionenlehre, die Möndchen des Hippokrates, die Parabelquadratur des Archimedes, Robervals Zykloidenquadratur, Torricellis unendlich großer „Kühlturm“ mit endlichem Volumen, die Hyperbelquadratur, frühe Tangentenmethoden, der Hauptsatz bei Newton und Leibniz, die Brachystochrone, Eulers „Nullenrechnung“, das Cauchy- Integral, die gleichmäßige Konvergenz bei Weierstraß und noch einiges mehr. Jedem Abschnitt folgt eine Literaturliste. Manchmal findet man Kommentare zur Literatur: „falsch“, „Unstimmigkeit“, „Zeitskala falsch“, was den Autor als kritischen Leser der Sekundärliteratur ausweist.

Beide Teile sind durchzogen von Körles trockenem Humor, seinem spritzigen, witzigen und zuweilen auch ironisch-sarkastischen Sprachstil, den ich sehr schätze und der mir beim Lesen Freude macht. Nur wenige Beispiele dazu: „Die Römer kommen [...] nicht in Frage; sie haben, bei all ihrem technischen Talent, keinen Nerv fürs Theoretische.“ (S. 19); „Die Astronomie hatte ihre Sternstunde [...]. Dann die Supernova der Analysis. Nicht zufällig mit Doppelstern. [...] Newton und Leibniz lagen in der Luft.“ (S. 35); „Leider ist dem Calculus zu Lebzeiten seiner Väter kein Happyend beschieden, sondern ein Vaterschaftsprozess.“ (S. 55); „[...] verstieg er [Leibniz] sich zur Behauptung, er könne jede Reihe summieren. Schon die [...] Reihe 1/k2 verschaffte ihm wieder Bodenhaftung: Sie trotzte auch den Bernoullis, [...].“ (S. 159); „Vage Aussagen sind keine Aussagen und damit nicht disputfähig“ (S. 184).

Das Buch kommt äußerlich ganz unscheinbar daher, aber was soll denn der Fisch im Würfel auf dem Buch? Die einfallslose Einbandgestaltung auflockern? Da hätte sich der Verlag für so ein Schmuckstück von Buch doch etwas mehr einfallen lassen sollen. Dieses wundervolle Buch Körles ist weder eine Geschichte der Analysis, noch ein Analysis-Lehrbuch und schon gar keine Anekdotensammlung. Es ist – um endlich einmal eine der neuen Worthülsen zu verwenden – ein im besten Sinne transdisziplinäres Buch, das man nicht nur den Studierenden der Mathematik empfehlen sollte, sondern allen, die mehr über die Wurzeln der Analysis wissen wollen.

Rezension: Thomas Sonar, Braunschweig

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, April 2010, Band 57, Heft 1, S. 159 Mit freundlicher Genehmigung des Verlags