From Eudoxus to Einstein
A History of Mathematical Astronomy
Christopher M. Linton
Cambridge University Press (2004), 516 Seiten, 114,88 €
ISBN: 0-521-82750-7
Eine Geschichte der Astronomie von den Anfängen bis zur Relativitätstheorie zu schreiben und das ganze dann in ein Buch von ca. 500 Seiten zu pressen scheint ein nahezu aussichtsloses Unterfangen zu sein, doch es gibt Vorbilder, z.B. Pannekoek1, der aber die Relativitätstheorie ausklammert und Dreyer2, der nur bis zu Kepler kommt. Jeder Liebhaber oder Kenner dieser uralten und immer noch modernen Wissenschaft hat seine eigenen Vorlieben, die er oder sie in einem solchen Buch präsentiert haben möchte. Hier ist nun ein Buch über mathematische Astronomie und um es gleich vorweg zu nehmen: Linton hat ein großartiges Buch vorgelegt.
Im Vorwort legt der Autor den Kurs fest: „ ... I have taken the view in this book that it is more important to understand what it is that was accomplished than precisely how it was achieved“, und diesen Kurs hält er strikt ein. Nur zehn Seiten benötigt Linton in der Einführung, um alle benötigten Fachtermini (synodischer Monat, Deklination, Sonnenwende, etc.) zu erläutern und den Leser dadurch einzustimmen. Dann beginnt die Reise mit den Beiträgen der babylonischen Astronomie, über die wir durch die Arbeiten von Neugebauer und seiner Schule an der Brown University erstaunlich viel wissen3. Dann folgt eine Beschreibung und Diskussion der klassichen griechischen Astronomie. Jeder, der sich wie ich durch Arthur Koestlers Buch The Sleepwalkers4 angezogen fühlte und dort zum ersten Mal lernte, dass selbst das Tycho Brahesche Weltsystem bereits als Modell den Griechen bekannt war, wird auch hier auf seine Kosten kommen, allerdings in einer im Gegensatz zu Koestler wissenschaftlich stets streng begründeten Weise. Die Planetentheorien (wozu ich auch die Theorie der Bewegung von Mond und Sonne zähle) stehen im Vordergrund der Diskussion und die Theorien des Eudoxus, Aristarchus, Apollonius und Hipparchus, die schließlich in Ptolemäus’ Almagest münden, erfüllen den heutigen Leser immer wieder mit ungläubigem Staunen – es gab schließlich noch keine Teleskope! Das Ptolemäische Weltsystem erfährt besondere Aufmerksamkeit, hat es doch bis weit in das 16te Jahrhundert hinein gewirkt. Seine Mechanismen werden detailiert erläutert und ein Abschnitt ist der Trigonometrie gewidmet, die Ptolemäus seinen astronomischen Ausführungen vorangestellt hatte.
Als ein Kleinod kann ein Kapitel über die Astronomie der Inder und Araber bezeichnet werden. Auch hier beschränkt sich Linton nicht auf das Erzählen, sondern er erklärt die geozentrischen Weltsysteme, die außerhalb unserer westlichen Kultur entwickelt wurden. Mit der Entwicklung von Klöstern und der Scholastik beginnt dann wieder das Interesse an Astronomie im Westen. Über Peurbach und Regiomontanus führt der Weg zu Kopernikus, dessen De Revolutionibus zu den Meilensteinen der Astronomie zählt5. Immer wieder erstaunlich ist die hohe Komplexität des Kopernikanischen Systems, in dem die Anzahl von Epizykeln im Vergleich zum geozentrischen System des Ptolemäus etwa verdoppelt werden musste, um eine Übereinstimmung mit den damals verfügbaren Beobachtungen sicherzustellen. Es folgen Beschreibungen der Arbeiten und Theorien von Tycho Brahe, Kepler und Galilei. Wie im Rest des Buches auch gelingt es Linton in spannender Weise, die wissenschaftlichen Leistungen der Protagonisten mit ihren Lebensbeschreibungen zu verknüpfen. In natürlicher Weise schließt sich Newton an, der mit seinem Gravitationsgesetz und einer Mondtheorie wesentliche nach-Galileische Beiträge zur Astronomie geleistet hat. Mit der nun vorhandenen Differential- und Integralrechnung macht auch die Astronomie enorme Fortschritte: Clairaut, Euler, d’Alembert, Lagrange sind hier die hervorstechenden Namen. In wissenschaftlicher Hinsicht geht es in dieser Zeit um verbesserte Mondtheorien, Theorien der Bewegung von Kometen, das genaue Aussehen der Erde, das Verständnis der Abweichungen der mittleren Bahnen von Saturn und Jupiter und die Frage nach der Stabilität des Sonnensystems in Form des Dreikörperproblems gewinnt nun an Aufmerksamkeit. Fragen nach den Abständen der Planeten im Sonnensystem werden aufgeworfen; das Titius-Bode-Gesetz gewinnt Anhänger und gibt ersten Anlass, nach weiteren Planeten zu suchen. Gauß findet am Übergang vom 18ten zum 19ten Jahhrundert den Planetoiden Ceres rein rechnerisch aus seiner Methode der Bahnbestimmung – die rechnende Astronomie wird als Wissenschaft geboren. Die Methoden zur Bahnberechnung werden so weit verfeinert, dass Störungen in Planetenbahnen als Vorhandensein weiterer Planeten gedeutet werden können – Uranus, Neptun und Pluto sind schließlich gefunden worden.
Unter dem Titel „New Methods“ wendet sich Linton dann der Hamilton-Jacobi-Theorie und der Störungsrechnung im 19ten Jahrhundert zu. Charles Delaunay legt eine algebraische Mondtheorie vor und Poincaré betritt die Bühne mit seiner spektakulären (und erst einmal falschen) Behandlung des Dreikörperproblems, aus dessen Korrektur dann eine ganz neue Forschungsrichtung innerhalb der Mathematik – die nichtlineare Dynamik – entstand. Das letzte Kapitel ist der Relativitätstheorie gewidmet, mit deren Hilfe sich die Anomalitäten in der Perihelbewegung des Merkurs erklären ließen. Die Wirkung der Sonnengravitation ist im Fall des Merkurs als sonnennächstem Planeten groß. Das Phänomen suchte nach einer Erklärung und Einstein suchte nach einem Paradigma für seine allgemeine Relativitätstheorie, voilà!
Lintons Buch ist ein fantastischer Reisebegleiter durch die Astronomiegeschichte – spannend, informativ und bis ins Detail genau. Egal, ob man sich für Astronomiegeschichte im Einzelnen interessiert oder ob man nach einem Blick an den nächtlichen Sternenhimmel gerne mal episodenhaft schmökern möchte, dieses Buch gehört einfach in greifbare Nähe auf jedes Bücherregal.
1 A. Pannekoek – A History of Astronomy. (George Allen & Unwin 1961)
2 J.L.E. Dreyer – History of the Planetary Systems from Thales to Kepler. (Cambridge University Press 1906)
3 Dem Springer Verlag ist nicht genug zu danken, dass er 2006 Otto Neugebauers dreibändiges Werk A History of Ancient Mathematical Astronomy wieder nachgedruckt hat, über das ich an dieser Stelle demnächst genauer berichten werde.
4 A. Koestler – The Sleepwalkers. (Hutchinson 1959)
5 N.M. Swerdlow, O. Neugebauer – Mathematical Astronomy in Copernicus’s De Revolutionibus. (Springer Verlag 1984) enthält in zwei Bänden eine wunderbare Analyse der Mathematik hinter der Astronomie des Kopernikus, ist aber schon seit längerem nicht mehr im Druck.
Rezension: Thomas Sonar, Braunschweig
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, März 2007, Band 54, Heft 1, S. 126
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags