Karl Weierstraß (1815–1897)
Aspekte seines Lebens und Werkes
Aspects of his Life and Work
Wolfgang König, Jürgen Sprekels (Hrsg.)
Springer Spektrum; 1. Aufl. 2016. (26. August 2015), 289 Seiten, 34,99 €
ISBN-10: 3658106182
ISBN-13: 978-3658106188
Meine erste Begegnung mit dem Namen Weierstraß fand in der Analysis Vorlesung am Beginn meines Mathematikstudiums statt. In Zusammenhang mit der Konvergenz von Reihen bzw. Funktionenreihen machte der Vortragende die Bemerkung „Weierstraß habe erst im – für einen Mathematiker – relativ hohen Alter von 40 Jahren begonnen sinnvolle Sätze zu beweisen“, die sich seltsamerweise bis heute in meinem Gedächtnis verankert hat. Was damit – in überspitzter Form – gemeint gewesen sein könnte, versteht man nach der Lektüre des vorliegenden Buches viel besser.
Eine präzise Zuordnung des Namens Weierstraß zu dem nach ihm benannten Majorantenkriterium für die absolute und gleichmäßige Konvergenz von Funktionenreihen erfolgte, soweit ich mich erinnern kann, nicht. Die Bedeutung von Weierstraß in der Mathematik und insbesondere in der Analysis und Funktionentheorie war dennoch kaum zu übersehen, beginnend beim Satz von Bolzano-Weierstraß und der Weierstraß-Funktion (eine überall stetige aber nirgends differenzierbare Funktion), über den nach ihm benannten Produktsatz, den Approximationssatz (Stone-Weierstraß) bis hin zum Weierstraß’schen Vorbereitungssatz.
Das vorliegende, anlässlich des 200. Geburtstags dieses berühmten Mathematikers vom Weierstraß-Institut für Angewandte Analysis und Stochastik in Berlin herausgegebene Buch bietet sowohl einen guten Überblick über das Leben und Werk dieses bedeutenden Mathematikers als auch einen genaueren Blick auf wichtige Teilaspekte derselben.
Im ersten Kapitel „Die prägenden Jahre im Leben von Karl Weierstraß“ (J. Elstrodt) erfährt man, wie Weierstraß unter schwierigen Bedingungen (als Gymnasiallehrer mit hoher Arbeitsbelastung, mit wenig Kontakten zu Kollegen und eingeschränktem Zugang zur Literatur) den Grundstein für sein wie der Autor sagt „zweites Leben“ als Mathematiker von Weltrang gelegt hat. Es ist interessant zu erfahren, wie es Weierstraß mit seiner 1854 erschienen Arbeit „Zur Theorie der Abel’schen Funktionen“ geschafft hat, nahezu aus dem Nichts ins Zentrum der damaligen mathematischen Welt aufzusteigen. Im selben Jahr wird ihm ein Ehrendoktorat der Universität Königsberg verliehen, 1856 wird er auf eine erste Professur nach Berlin berufen und 1864 wird er Ordinarius an der Universität Berlin. Die hinter diesen Erfolgen stehenden Anstrengungen fordern aber einen hohen Preis, für den Rest seines Lebens hat er mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen.
Im zweiten Kapitel „Zur Biographie von Karl Weierstraß und zu einigen Aspekten seiner Mathematik“ (J. Bölling) werden in sehr gelungener Weise sein Leben und die Aspekte seines Werkes, die heute zum Grundwissen jedes Mathematikers gehören, ausführlich dargestellt. Vieles wird mit aufschlussreichen Originalzitaten belegt, die einen lebendigen und nachhaltigen Eindruck von der Schwierigkeit, Dynamik und Heftigkeit dieser Übergangsphase zur modernen Mathematik geben. Dies wird etwa in der Beschreibung der Unterschiede zwischen Riemann und Weierstraß (geometrische versus analytische Arbeitsweise, Weierstraß’s Kritik am von Riemann verwendeten Dirichlet Prinzip) deutlich und ebenso in dem sich verstärkenden Konflikt mit Kronecker, der zunehmend Positionen des Finitismus (eine Form des Konstruktivismus) vertrat.
Die weiteren sechs Kapitel des Buches sind „Weierstraß und die Preußische Akademie der Wissenschaften“ (E. Knobloch), „Karl Weierstraß and the theory of Abelian and elliptic functions“ (P. Ullrich), „Building analytic function theory: Weierstraß’s approach in lecture courses and papers“ (U. Bottazzini), „Monodromy and normal forms“ (F. Catanese), „Weierstraß’s Approximation Theorem (1885) and his 1886 lecture course revisited“ (R. Siegmund-Schultze) und „Counterexamples in Weierstraß’s work (T. Archibald).
Ein wiederkehrendes Thema ist die Entstehung und Weiterentwicklung der zentralen Inhalte von Weierstraß’s berühmten Vorlesungen, die er in den Jahren von 1862 bis 1887 in Berlin gehalten hat. Ausführlichen Platz finden Weierstraß’s berühmte Gegenbeispiele (die Existenz von stetigen, nirgends differenzierbaren Funktionen, Existenz eines Variationsproblems ohne Minimum).
Die einzelnen Kapitel sind gut lesbar und ergänzen sich gegenseitig. Der Beitrag von F. Catanese blickt teilweise aus Sicht späterer Entwicklungen auf Weierstraß’s Werk und ist mathematisch anspruchsvoller. In Anbetracht der sprichwörtlichen „Weierstraß’schen Strenge“ soll nicht unerwähnt bleiben, dass im Abschnitt 8.3 Hardy’s Resultat über Riemanns Beispiel einer nirgends differenzierbaren Funktion nicht ganz korrekt wiedergegeben wird.
Als Person wird Weierstraß nicht wirklich greifbar, man würde gerne mehr über sein Privatleben, sein Verhältnis zu Sofja Kowalewskaja und über das Rätsel um seinen Ziehsohn Franz erfahren. Dies ist aber auch nicht die Intention des vor allem an Weierstraß’s Mathematik orientierten Buches, bei Interesse an diesen Fragen können die zahlreichen Quellenangaben weiterhelfen.
Es ist faszinierend und überraschend zu sehen, wie sehr Weierstraß’s Zugang zur Analysis noch die heutige Lehre in der Analysis prägt. Das Buch gibt interessante und lehrreiche Einblicke in die Entwicklung der reellen Zahlen, des modernen Funktionsbegriffs und der rigorosen reellen und komplexen Analysis. Das Buch regt dazu an manchen der angeschnittenen Themen weiter nachzugehen.
Allen, die so wie der Rezensent immer wieder erleben, dass die Grundlagen der Analysis auch den heutigen Studierenden beträchtliche Schwierigkeiten verursachen, kann die Beschäftigung mit der Geschichte der Mathematik – etwa durch Lesen dieses Buches – in vielfacher Hinsicht nützlich sein, nicht zuletzt durch die Erkenntnis, wie sehr und wie lange um diese Begriffe gerungen werden musste.
Rezension: Peter Szmolyan, Wien
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Oktober 2016, Band 62, Heft 2, S. 307
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags