Die altägyptische Zeitmessung
Was die Altägypter über Uhren und Zeitmessung wussten
Ludwig Borchardt, Daniela Wuensch, Klaus P. Sommer (Hrsg.)
Termessos Verlag 2013, 189 Seiten, 36,80 €
ISBN-10: 3938016140
ISBN-13: 978-3938016145
Nach Kant sind Raum und Zeit Formen der Sinnlichkeit a priori im Sinne der transzendentalen Ästhetik und mindestens beim Raum hat Kant mit der Geometrie ein klares mathematisches Bild vor Augen. Wie auch der Raum, so hat der Begriff „Zeit“ die Phantasie der Menschen früh angeregt und auch der Wunsch nach dem „Messen“ von Zeit ist vermutlich so alt wie die Geometrie. Besondere Bedeutung hatte die Zeit zweifelsohne für die alten Ägypter und von ihnen kennen wir die ersten Zeitmesser der Menschheit, die Wasseruhren. Nun reicht es nicht, irgendein Gefäß zu nehmen, es an seinem unteren Rand mit einer Ausflußöffnung zu versehen und dann Wasser aus diesem Gefäß auslaufen zu lassen. Schließlich möchte man den Lauf der Zeit gleichmäßig messen, so, wie uns dieses Verfließen der Zeit ja tatsächlich vorkommt. Also muß der Ausfluß aus dem vollständig gefüllten Gefäß in gleichen Zeiten die gleichen Markierungen überstreichen wie beim fast leeren Gefäß. Ebensolches gilt für Einlaufuhren, bei denen ein stetiger Wasserzufluß ein Gefäß füllt. Und hier ist der Anknüpfungspunkt zur Mathematik!
Im Jahr 1920 erschien Die Geschichte der Zeitmessung und der Uhren, Band I, Lieferung B, herausgegeben von Ernst von Bassermann-Jordan. Diese Lieferung war Ludwig Borchardts Altägyptische Zeitmessung, um die es im vorliegenden Buch geht und die man hier vollständig abgedruckt findet. Borchardt war einer der führenden Ägyptologen seiner Zeit und ist bis heute wohl für die Entdeckung der Nofretete Büste in Amarna bekannt. Da er sowohl Architektur als auch Ägyptologie studierte, interessierte er sich ganz wesentlich für altägyptische Bauforschung. In der umfangreichen Arbeit über die altägyptische Zeitmessung hat Borchardt akribisch Wasser, Sonnen- und Sternenuhren untersucht, und ist dabei im Detail auf ihre Konstruktion eingegangen. Er beginnt mit Auslaufuhren und macht das älteste Exemplar an der Regierungszeit des Pharaos Amenophis III. fest. Die Auslaufuhr ist zu einem kulturellen ägyptischen Exportschlager geworden, denn Borchardt verfolgt das Auftreten solcher Uhren bis in die Neuzeit. Auf einem Papyrus findet man die Berechnung von Auslaufuhren, die Borchardt minutiös verfolgt. Von Einlaufuhren war Borchardt nur genau ein Exemplar bekannt, das er etwa um 100 n.Chr. ansiedelt und das er samt seiner inneren Skala rekonstruiert.
Bei den Sonnenuhren beschreibt Borchardt zwei Typen, die er beide genau analysiert. Die Vermutung, man hätte erst mit Hilfe einer Wasseruhr den Lauf der Sonne in gleiche Zeitabschnitte zerlegt und aus diesem Wissen heraus die Sonnenuhren konstruiert, verwirft Borchardt. Die nicht unerheblichen Fehler, die sich in den Auslaufuhren finden, finden sich bei den Sonnenuhren nämlich nicht wieder. Bei den Sternenuhren scheint es jedoch Praxis gewesen zu sein, dass man den Gang eines Gestirns erst mit einer Wasseruhr vermessen hat. Zum Schluß stellt Borchardt fest, dass alle drei Uhrentypen voneinander abweichende Zeiten maßen, d.h. jede der Uhren teilte den Verlauf der Zeit anders. Besonders groß waren die Fehler bei den Auslaufuhren.
Die Borchardt’sche Arbeit ist voller Zeichnungen, Skizzen und Schwarz-weiß-Photographien, die zum Verständnis der Ausführungen maßgeblich beitragen. Aber eine solche wissenschaftshistorische Arbeit wie die Borchardts kann man nach fast 100 Jahren nicht mehr kommentarlos lesen. Daher hat die Wissenschaftshistorikerin Daniela Wuensch dem Borchardt’schen Werk unter dem Titel „Einleitung: Was die alten Ägypter über Uhren und Zeitmessung wussten“ ein langes Essay vorangestellt. Hier erfahren die Leser nicht nur etwas zum Leben Borchardts und zur Entdeckung des alten Ägyptens, sondern auch viel Material zur Erforschung der altägyptischen Zeitmessung. So erfahren wir, dass 66 Jahre nach Borchardt australische Naturwissenschaftler die Untersuchung der Auslaufuhren wieder aufnahmen und ein Modell bauten, mit dem sie experimentierten. Sie berücksichtigten im Gegensatz zu Borchardt auch die Auslauföffnung und stellten fest, dass man mit altägyptischen Auslaufuhren wesentlich höhere Genauigkeiten erreichen konnte als Borchardt vermutet hatte. Die alte Uhr aus Karnak zeigte pro Stunde einen Fehler von weniger als eine Minute – eine beachtliche Leistung.
Weiterhin argumentiert Wuensch sehr nachvollziehbar, dass Borchardts Analyse der Auslaufuhren bereits 1920 die Meinung Otto Neugebauers aus dem Jahr 1975, die ägyptische Astronomie habe keinerlei Beitrag zu den exakten Wissenschaften geleistet, falsifiziert hatte. Gerade die Analyse der Auslaufuhren zeigte Borchardt die Liebe der Ägypter zur mathematischen Präzision. Wir sollten auch nicht übersehen, dass in griechischen Quellen stets Ägypten als das Land bezeichnet wurde, aus dem die Mathematik kam. Die sich anschließende Beschreibung der weiteren Wasser, Sonnen und Sternenuhren durch Daniela Wuensch ist ebenfalls sehr lesenswert. So ist Borchardts Enttäuschung über die scheinbare Ungenauigkeit der untersuchten Uhren wohl eher den Anforderungen eines Mannes des 19. Jahrhunderts geschuldet. Der ägyptische Kalender war jedenfalls so genau, dass man ihn noch heute verwenden könnte. Wuensch stellt auch die Bedeutung von Borchardts Werk klar heraus und bezeichnet seine Leistung als einmalig aus der Perspektive der Wissenschaftsgeschichte. Bemerkungen des Verlegers Klaus Sommer und eine moderne Bibliographie schließen das einführende Essay ab.
Das vorliegende Buch kann ich allen an Fragen der Zeitmessung interessierten Lesern nur ans Herz legen. Es enthält die wunderbare klassische Arbeit Borchardts sowie einen erhellenden Kommentar einer modernen Wissenschaftshistorikerin, die die klassische Arbeit in den historischen Kontext einordnet. Zudem ist das Buch einfach gut gemacht: Großformatig, auf gutem Papier gedruckt und sauber in festem Einband gebunden. Es macht Freude, in einem solchen Buch zu lesen.
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Oktober 2013, Band 60, Heft 2
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Rezension: Thomas Sonar (Braunschweig)