Mathe und Krieg
Mathematics and War
Bernhelm Booss-Bavnbek, Jens Høyrup (Hrsg.)
Birkhäuser Verlag (2003), 424 Seiten, 39,00 €
ISBN: 3-7643- 1634-9
Wir sind nach einem Jahrhundert abendländischer Kataklysmen heute weit von Jacob Burckhardt entfernt, der 1860 in seiner Kultur der Renaissance in Italien dem Gesamtblick auf jene Epoche auch den Krieg als Kunstwerk im Gleichklang mit dem Fortschritt der Wissenschaften und Künste einverleibte und der dann auch säuberlich die aus der rationellen Behandlung der Kriegssachen erwachsenden italienischen Greueltaten von jenen unterschied, die spanische Horden später in Italien verübten, in welchen vielleicht ein nicht Abendländischer Zusatz des Geblütes, vielleicht die Gewöhnung an die Schauspiele der Inquisition die teuflische Seite der Natur entfesselt hatte. Wohl den meisten Bürgern des Alten Europa erscheint der Krieg heute als so schrecklich, dass seine Gleichbehandlung mit friedlichen, zivilen Themen ungehörig wirkt. Die beiden Weltkriege haben unsere Kultur derart umgekrempelt, dass in den letzten Jahren sogar die stürmische Weiterentwicklung der modernen Kriegstechnologie – welche die derzeitige Weltmacht in kurzen Zeitabständen an immer inadäquateren Gegnern auszutesten Gelegenheit findet – nur undeutlich wahrgenommen wird: ihr wird, im Gegensatz etwa zu den gentechnisch veränderten Lebensmitteln, weitgehend erlaubt, sich hinter den selbstschliessenden Türen der Labors zu verstecken.
Es gibt also gute Gründe, auch aus Interesse an der Mathematik und ihrer Geschichte, sich sowohl mit den Weltkriegen als auch mit den Kriegen der Gegenwart zu beschäftigen. So hatte auch ich spontan vorgeschlagen. einen Workshop zum Thema Mathematik und Krieg in die kleine Tagung zur Mathematikgeschichte mit aufzunehmen, die ich im Februar 2004 mit Urs Stammbach an der ETH Zürich organisierte. Dann stellte sich heraus, dass Catherine Goldstein in Paris gerade ein internationales wissenschaftshistorisches Projekt zum Ersten Weltkrieg anstiess. Sie war es dann auch, die in ihrem Vortrag in Zürich eindringlich darauf hinwies, dass eine Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg heute die Emotionalität des Gegenstands nicht in antiseptische Sachlichkeit auflösen dürfe; man müsse sie vielmehr bei der historischen Reflektion selbst mit zum Thema machen. Es führe auch in Zürich kein Weg zurück zu Jacob Burckhardt.
Das hier angezeigte Buch geht auf eine Internationale Konferenz zum Thema vom August 2002 in Krulskrona (Schweden) zurück, die sich, aus ähnlichen Motiven entstanden, durch die Beteiligung militärischer Experten auszeichnete. So gliedert der vorliegende Band die Beiträge nach den vier Gesichtspunkten: Perspectives from Mathematics, Perspectives from the Military, Ethical Issues und Enlightenment Perspectives, von denen der erste allerdings kaum weniger als die Hälfte des Buches einnimmt. Und in diesem ersten Teil hat Reinhard Siegmund-Schultzes sechzigseitiger Essay Military Work in Mathematics 1914-1945: An Attempt at an International Perspective nicht nur nach der Seitenzahl das größte Gewicht. Dieser Aufsatz spannt den Rahmen für einen umfassenden Ländervergleich auf und beleuchtet diese weite Thematik durch kurze Fallstudien und erste Hinweise und Fragen. Dadurch wird deutlich, wie weit wir heute noch von einem historisch fundierten Gesamtbild der Mathematik und der Mathematiker in den Kriegen des XX. Jahrhunderts entfernt sind. Genau dieses Gefühl, am Anfang zu stehen. war auch die eindringlichste Lehre, die die Teilnehmer des Züricher workshops mitnahmen: es gibt Massen von Archiv- und anderem Material, von dem bisher nur die Spitze des Eisbergs gesichtet wurde; es gilt, die bisherige überwiegende Orientierung der Mathematikhistoriker an der Reinen Mathematik zu korrigieren, bevor eine einigermassen komplette historische Einordnung der angewandten Mathematik im Verhältnis zu Kriegsforschungen möglich sein wird. Inhaltlich sei von Siegmund Schultzes Aufsatz besonders die erstaunliche Durchlässigkeit zwischen reiner und angewandter Mathematik erwähnt, die er schön am Beispiel von Wolfgang Haacks Entwicklung optimaler Überschallgeschossprofile illustriert.
Die anderen Beiträge zum ersten Teil beleuchten: die Mathematiker hinter der Entzifferung des Enigma-Codes (Elisabeth Rakus-Andersson); Kolomogorovs angewandte Arbeiten während des II. Weltkrieg (Alben N. Shiryaev); die Koordination der amerikanischen Kriegsforschung im II. Weltkrieg als frühe Nische für weibliche Militärs (Kathleen Williams); die Auswirkung des II. Weltkriegs auf die Ausdifferenzierung angewandter mathematischer Disziplinen, insbesondere des Operations Research (Tinne Hoff Kjeldsen); ein kurzer Abstecher zu japanischen Dekodierern (Setsuo Fukutomi); und Revaz V. GamkreIidze zeigt die Herausbildung der Theorie der Optimal Control aus einer ursprünglich nur angewandten ad hoc Fragestellung.
Teil I schliesst mit einer zwar skizzenhaften aber ebenso richtigen wie wichtigen Darstellung des Dreiecks Unterhaltung – Mathematik – Kriegstechnologie aus der Feder Philip J. Davis'. So las man ja auch vor wenigen Monaten, als die ersten internen US Analysen der Irak-Kampagne vom März/April 2003 in die Presse sickerten, dass junge, mit Computerspielen aufgewachsene Truppenführer besonders nachts viel besser mit den neuen Orientierungs- und Dirigier-gadgets fertig wurden als ältere Offiziere, die an hergebrachte Wege der Meldung und Befehlsweitergabe gewohnt waren.
Der Rest des Buches ist die Fortsetzung der Thematik mit anderen Stilmitteln: Natürlich schreiben ein Leutnant im Ruhestand, der ausserdem früher dänischer Wissenschaftsminister war [Svend Bergstein: War cannot be calculated, über weite Strecken irgendwie an Clausewitz anknüpfend] und ein Mitarbeiter der dänischen Verteidigungsforschung [Svend Clausen: Warfare can be calculated, eine kommentierte Zusammenstellung veschiedenartiger combat models] ihren eigenen Stil, der nicht der des Mathematikhistorikers sein kann. Hierzu mag sich jeder Bürger und Leser am Kamin seine Meinung bilden. Der zweite Teil enthält auch einen tribunalartigen Beitrag Elmar Schmählings über die „Kollateralschäden“ der NATO Angriffe auf Serbien.
Der vorletzte Teil über Ethical Issues enthält u.a. – und mit dieser Andeutung schliesse ich diese kurze Besprechung – drei interessante Studien über Wissenschaftler im II. Weltkrieg: Niels Bohr, Alan Turing und die fast absurde Geschichte des japanischen Mathematikers K. Ugura, der sich im II. Weltkrieg anscheinend zwischen anti-bourgoisem Kampf und der Treue zum militaristischen Japan verhedderte.
Rezension: Norbert Schappacher, Darmstadt
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Juni 2004, Band 51, Heft 1, S. 147
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags