Van der Waerden in Leipzig
Rüdiger Thiele
EAGLE Edition (2009), 160 Seiten, 22,50 €
ISBN: 978-3-9372-1936-3
Der Autor dieses 155 Seiten umfangreichen Büchleins, Rüdiger Thiele, wirkte früher am Karl Sudhoff-Institut in Leipzig; er beschäftigt sich bereits seit mehreren Jahren mit dem Thema van der Waerden in Leipzig, 2007 veröffentlichte er zwei längere Arbeiten darüber. Grundlage für dieses Büchlein war ein vielbeachteter Vortrag, den der Autor am 26. November 2003 in Leipzig anläßlich des 100. Geburtstages von Professor Dr. Bartel Leendert van der Waerden hielt. Eine gekürzte Version ohne Anmerkungen, Anhänge, Biographien und Register erschien bereits in den Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 12, 1, 2004, S. 8–20. Van der Waerden verbrachte die Jahre von 1931–1945 in Leipzig, in dieser Zeit veröffentlichte er fünf Bücher sowie 57 Zeitschriftenaufsätze; ferner betreute er 4 Dissertationen. Am 6. Juni 2009 wurde in Leipzig am Universitätsgebäude in der Talstraße 35 eine Erinnerungstafel für die bedeutenden Mathematiker, die an der Universität Leipzig wirkten, eingeweiht; auf dieser durfte natürlich der Name van der Waerden nicht fehlen.
Das Mathematische Institut der Universität Leipzig war 1881 von Felix Klein gegründet worden, dort lehrten so berühmt gewordene Mathematiker wie Adolph Mayer, Sophus Lie, Felix Hausdorff und Otto Hölder. 1931 wurde van der Waerden Nachnachfolger auf dem Lehrstuhl von Felix Klein; die Berufung erfolgte nicht wie üblich durch eine Dreierliste, sondern durch eine Einerliste und zwar für das Fachgebiet algebraische Geometrie. Van der Waerdens Kollegen in Leipzig waren Paul Koebe, Leon Lichtenstein und Ernst Hölder. Van der Waerden hatte damals, als er nach Leipzig kam, bereits den ersten Band seiner Modernen Algebra im Gepäck, der 1930 erschienen war; der zweite folgte nur ein Jahr später. Die Bedeutung dieses Lehrbuches kann gar nicht überschätzt werden, lernten doch mehrere Generationen die moderne Algebra nach van der Waerden kennen. Dabei gab es auf dem Sektor Lehrbücher über Algebra durchaus heftige Konkurrenz. Der Autor macht deutlich, was neu war an van der Waerdens Algebra, und dass diese durchaus nicht nur auf Verständnis stieß, sondern vereinzelt auch harsche Kritik nach sich zog. Van der Waerdens Ruhm gründet sich in erster Linie auf dieses Werk, obwohl, wie der Autor deutlich macht, van der Waerden nicht der Schöpfer der modernen Algebra war, sondern lediglich ihr Berichterstatter; die Schöpfer waren Emil Artin und Emmy Noether, was van der Waerden in seinem Werk auch stets betonte.
Van der Waerdens Zeit in Leipzig wurde maßgeblich durch das Dritte Reich geprägt; er war sein ganzes Leben lang niederländischer Staatsbürger. Sein Leben während des Nazionalsozialismus war schon des öfteren in der Literatur thematisiert worden. Dem Autor gelingt es dank gründlicher Recherchen, ein ausgewogenes Bild vorzustellen, das deutlich macht, wie einseitig so manche frühere Darstellungen gezeichnet worden sind. Van der Waerden arrangierte sich in keiner Weise mit dem Regime, aber er blieb trotz zweier Rufe nach Utrecht in Leipzig und dies auch noch, als er 1943 ausgebombt wurde und in Leipzig keine neue Bleibe finden konnte. Es ist wenig bekannt, dass van der Waerden fortan für mehr als ein Jahr in Bischofswerda bei Dresden lebte, aber dennoch seine Vorlesungen in Leipzig abhielt. Van der Waerden, der während der Zeit des Nazionalsozialismus mannigfache Repressionen hinnehmen musste, trat stets für eine demokratische Kultur in seinem Gastland ein, er war durchaus kein Schaf in der damals sehr großen und stets wachsenden Schafherde.
Doch betrachtete der Autor van der Waerden nicht nur in Leipzig, sondern schilderte auch die Zeit vor 1931 sowie die Zeit nach 1945. Van der Waerden verzieh man in den Niederlanden nicht, dass er zwei Rufe nach Utrecht abgelehnt hatte. So folgte er 1951 einem Ruf an die Universität Zürich, wo er bis 1972 als Mathematiker wirkte und bis 1979 das Institut für Mathematikgeschichte leitete. In Zürich nämlich hatte sich van der Waerden auch der Mathematikgeschichte zugewandt, er gilt als einer der ganz großen Mathematikhistoriker; vor allem gehört er zu der ganz kleinen Gruppe derjenigen, die sowohl in Mathematik als auch in Mathematikgeschichte brillierten. Van der Waerdens Erwachende Wissenschaften haben ganze Generationen von Mathematikhistorikern und Interessierten begeistert und gelenkt.
Auch gelingt es dem Autor, dem Leser zu vermitteln, dass van der Waerden nicht nur algebraischer Geometer war, sondern auf zahlreichen weiteren mathematischen Gebieten produktiv arbeitete. Es gibt kaum eine mathematische Disziplin, zu der van der Waerden keinen bemerkenswerten Beitrag geleistet hatte. 1985 erhielt van der Waerden nach längerem Tauziehen die Ehrendoktorwürde der Universität Leipzig verliehen, er starb 1996 in Zürich.
Das Büchlein über van der Waerden in Leipzig ist anregend und lebhaft geschrieben; da es mit großem persönlichen Engagement verfasst wurde, wird es mit Sicherheit seine Leser begeistern. Die Kompetenz und die sorgfältigen Recherchen, die dem Büchlein zugrunde liegen, werden in dem umfangreichen Anmerkungsapparat sowie in den 8 Anhängen, dem biographischen Supplement sowie mit den Registern dokumentiert. Die zahlreichen Abbildungen, teilweise auch in Farbe, bieten eine willkommene Abwechslung.
Rezension: Karin Reich, Berlin
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, April 2010, Band 57, Heft 1, S. 150
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags