The Calculus Wars
Newton, Leibniz, and the Greatest Mathematical Clash of all Time
Jason Socrates Bardi
Thunder’s Mouth Press (2006), 277 Seiten, 19,99 €
ISBN: 1-56025-706-7
Spätestens seit Deutschland angeblich am Hindukusch verteidigt wird, leben wir in kriegerischen Zeiten; die Amerikaner gleich gar. Dennoch ist der Titel des hier vom jungen amerikanischen Wissenschaftsschriftsteller Bardi vorgelegten Erstlings so neu nicht. Es gibt bereits seit über zwanzig Jahren ein Meisterwerk zum Prioritätsstreit zwischen Newton und Leibniz, das Buch Philosophers at War des Historikers Albert Rupert Hall1, aber durch die „Star Wars“ und die „Cultural Clashes“ erscheinen wohl die „Calculus Wars“ und „Mathematical Clashes“ als besonders gut verkäuflich.
Bevor ich auf die inhaltliche Seite zu sprechen komme, möchte ich etwas zu den Äußerlichkeiten des Buches sagen. Während der letzten Buchmesse gefragt, welche kleinen Details denn ein handwerklich gut gemachtes, ansprechendes Buch ausmachen, antwortete Elke Heidenreich: Ein fester Einband, gutes Papier, ein Lesebändchen und ein ansprechender Druck. Das vorliegende Buch aus dem mir ganz unbekannten Verlag Thunder’s Mouth Press ist in diesem Sinne ein handwerklich sehr gut gemachtes Buch: ein fester Einband, eine echte Bindung, d.h. eine anständige Fadenheftung, gutes Papier und ein handliches Format – mit einem Wort: Man nimmt das Buch gerne zur Hand; nur ein Lesebändchen fehlt. Beim Lesen allerdings beschlich mich nach einer Weile ein seltsames Gefühl, das ich mir zuerst gar nicht erklären konnte. Erst nach etwa der Hälfte des Buches war mir klar, was mich eigentlich störte: es ist das verwendete Textverarbeitungssystem in Verbindung mit zu vielen Schreibfehlern! Die Elastizität der Textzeilen ist so generös eingestellt, das man häufig gar keine (oder marginal kleine) Leerzeichen nach den Abschlusspunkten der Sätze bzw. nach Kommata findet, und dann wieder sind die Leerzeichen sehr reichlich bemessen. Vielleicht ist mein Auge auch einfach zu TeX-verwöhnt, aber so wie in diesem Buch ist mir die Bedeutung der „richtigen“ Verwendung von Leerzeichen noch nie vor Augen getreten. Dazu kommt die große Anzahl von Fehlern im Text: nicht nur reine Druckfehler, sondern doppelte Wörter, vergessene Wörter und einige Sätze, die selbst englische Freunde nicht zu verstehen in der Lage waren. Offenbar wurde hier am Editor gespart – wie so oft mit fatalen Folgen.
Nun aber zum Inhalt: Die Ähnlichkeit der Titel des vorliegenden Buches und des Buches von Hall habe ich bereits erwähnt und Halls Werk wird auch von Bardi als eine seiner Stützen erwähnt. Während Hall ganz eng an seinem Ziel – einer historisch genauen Analyse der Entwicklung des Prioritätsstreits um die Erfindung der Differential- und Integralrechnung zwischen Leibniz (und den Leibnizianern) und Newton (und den Newtonianern) – bleibt, ist Bardis Buch eigentlich eine Mischung aus den beiden Biographien von Newton und Leibniz, gewürzt mit dem Prioritätsstreit. Beide Autoren beschreiben nicht die Mathematik, um die es beim Prioritätsstreit eigentlich ging, obwohl sich Bardi in zwei Tafeln bemüht, wenigstens die Grundaufgaben des Calculus darzustellen, wenn auch nicht zu erklären. Während Hall sowohl historisch, als auch (meta)mathematisch außerordentlich genau ist und z.B. zwischen Newtons Fluxionen und Leibnizens Differentialen unterscheidet und damit auch eine metaphysische Komponente der Diskussion mitverfolgt, ist Bardi den Subtilitäten der Materie nicht gewachsen. Wer würde in einem Buch des Jahres 2006 etwa John Wallis als eine „somewhat obscure figure in the history of mathematics“ (S. 30) bezeichnen? Viele historische Zusammenhänge sind schlampig recherchiert bzw. kritiklos aus Biographien übernommen. So wurde Leibniz nicht ein paar Tage nach seinem Tod beerdigt, sondern genau einen Monat später, weil man erst das Grab in der Neustädter Kirche ausmauern musste. Auch war es so verwunderlich nicht – wie Bardi es seiner Leserschaft weismachen möchte – dass Leibniz im Inneren der Kirche seine letzte Ruhestätte fand, denn er war hoher Beamter des Hofes. Und so geht es mit den Ungenauigkeiten und schwammigen Beschreibungen munter weiter.
Von Zeit zu Zeit verfällt Bardi in einen Stil, der mehr an Biertischgespräche erinnert: „ ... and he began to read more Latin than a busload of pre-law students at a debate camp“ (S. 19) und ob man Newton dadurch näher kommt, dass man ihn als „superdiligent mad scientist“ bezeichnet, wage ich zu bezweifeln. Ganze Abschnitte hätten gekürzt werden können, denn sie enthalten inhaltsleeres Geschwafel, so die Diskussion um die erfundene Geschichte mit dem fallenden Apfel und dem Gravitationsgesetz und den daraus resultierenden Touristengruppen, die den immer wieder nachgepflanzten Apfelbaum vor den Fenstern der Newtonschen Räume im Trinity College begeistert photographieren. Den Apfel als Symbol für „sex, food, sin, and the fall of men“ (S. 34) aufzufassen ist legitim; kann man daraus irgendetwas über Newtonsche Physik ableiten? Zudem scheint Bardis Horizont an mancher Stelle sehr schmal zu sein, z.B. wenn er als die „big questions“ der Mathematik zu Newtons Zeiten die Berechnung von Tangenten und Flächeninhalten bezeichnet, ohne auf die eigentlichen Hintergründe – Lösen von Differentialgleichungen, Minimierung/Maximierung in der Natur, der Energieerhaltungssatz, letztlich bei Leibniz die „beste aller Welten“ – einzugehen. Dass Newton wegen des Brandes von London gar keine Manuskripte publizieren konnte, obwohl er es vielleicht wollte, halte ich für reine Spekulation. Er war sehr früh ein anerkanntes Mitglied der Royal Society und es hätte sicher einen Weg gegeben, seine frühen Texte zur Fluxionenrechnung zu publizieren.
Sehr störend empfinde ich das Fehlen von Referenzen im Text. Wenn Bardi schreibt „One of his biographers“ sagte dies und das, dann würde mich als Leser schon interessieren, um welchen Biographen es sich da gehandelt hat. Dafür befindet sich am Ende des Buches ein kleiner bibliographischer Essay, in dem Bardi die von ihm verwendete Literatur angibt und kommentiert.
Trotz aller Kritik: Bardis Buch liest sich in weiten Strecken sehr spannend. Für interessierte Schülerinnen und Schüler mit Interesse an der Geschichte der Mathematik, für Studierende der Mathematik und für alle interessierten Nichtmathematiker ist das Buch sicher ein schönes Geschenk und wird dort eine dankbare Leserschaft finden. Die historisch interessierte Fachfrau und ihr männlicher Kollege, die es gerne genauer wissen möchten, sind mit dem Original – ich meine A. Rupert Halls Buch, das ich an dieser Stelle noch einmal preisen möchte – besser bedient!
1A. Rupert Hall – Philosophers at War. The quarrel between Newton and Leibniz. (Cambridge University Press, 1980)
Rezension: Thomas Sonar, Braunschweig
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, März 2007, Band 54, Heft 1, S. 124
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags