Streifzüge durch die Mathematikgeschichte
Marek Kordos
Klett-Verlag, 1999, 22,50 €
ISBN: 3127201109
"Es wird oft vergessen, dass der Wiener Kongress (1814/15) unter anderem entschied, der einzige Schutz gegen "Unfälle" wie die Eroberungszüge Napoleons sei ein umfassendes Bildungssystem nach französischem Beispiel, also mit Mathematik als beherrschendem Fach. Dies ist der Grund, weswegen in ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural wie nach einem Naturgesetz die uns allen bekannte Situation entstand: Das wichtigste Schulfach ist die Mathematik, und der wichtigste (und gefürchteste) Lehrer ist der Mathematiklehrer. Wir sollten wirklich im Gedächtnis behalten, dass dieser Triumph der Mathematik indirekt von Napoleons Armeen errungen wurde. Angesichts des Niedergangs, der die Wertschätzung der Mathematik und noch mehr der Mathematiker unterliegt, lohnt es sich darüber nachzudenken, wie sich der Respekt vor uns Mathematikern erhöhen oder wenigstens die Gesellschaft angesichts dieser erschreckenden Entwicklung aufrütteln ließe."
Angesichts der zurzeit heftig geführten Debatte zu Konsequenzen aus der Pisa-Studie ist diese nur eine der wichtigen Aussagen in einem bemerkenswerten Buch zur Geschichte der Mathematik. Der Autor - er ist Professor für Geometrie in Warschau - erzählt uns auch gleich am Anfang, wie es zu diesem Buch kam. Seine Studenten hatten seinen Einwand, er könne keine Vorlesung zur Geschichte der Mathematik mangels umfassender Kenntnisse halten, nicht gelten lassen und ihn gefragt"Können Sie nicht mehr dazulernen?" Erfreulicherweise hat M. Kordos diese Frage mit Ja beantwortet. So liegen uns seine einprägsamen und sehr lesenswerten "Streifzüge durch die Mathematikgeschichte" vor. Und ... es sind nicht nur Streifzüge durch die Geschichte der Mathematik, die man als Leser anschaulich erleben darf. Sondern ... die mathematischen Streifzüge sind auf interessante Weise in die jeweilige Kultur- und Geistesgeschichte eingebettet. Dies geschieht in 20 Vorlesungen:
Das Wissen der Babylonier - Deduktives Denken - Das goldene Zeitalter und der Zweifel - Zahl und Maß - Euklid und Archimedes - Die Epigonen - Jenseits der Grenzen Europas - Die Araber: Europas Komplex - Rechenkunst, Himmel, Glaube ... - ... dazu Physik, Politik und Philosophie - Das Gravitationsgesetz - Alternativen - Im Dienste aufgeklärter Herrscher - Determinismus, Zufälligkeit und - Das Militär - Das Reich der Algebra wird gegründet - Die Geometrie des Sehens - Alternative Welten - Analysis, Zahlen und Mengen - Auf der Suche nach Ordnung - Die Hilbertschen Probleme.
Vorangestellt wird diesen Vorlesungen eine Betrachtung zum Thema "Worüber spricht die Sprache?" Abgeschlossen hat der Autor seine Vorlesungsreihe mit einer Vorlesung, die er mit der These "Nur noch ein Schritt - dann der Abgrund" überschrieb, in der er den Wahrheitsbegriff der Mathematik und in der Mathematik diskutiert. Schließlich - natürlich! - ist die wirklich allerletzte, die 24. Vorlesung der polnischen Mathematikerschule gewidmet. Sie verschaffte Polen eine führende Stellung in Topologie, Mengenlehre, Funktionalanalysis, Theorie der Differentialgleichungen, Logik und Algebra. Und er nennt Stanislaw Ulam, Stanislaw Mazur, Andrej Mostowski, Tadeusz Wazewski, Alfred Tarski, Wladyslaw Orlicz, Bronislaw Knaster, Jerzy Splawa-Neyman, Antoni Zygmund und Witold Hurewicz und schreibt: "Auf alle diese Namen kann man unbedenklich einen Eid ablegen. Natürlich gibt es noch Dutzende hervorragender Mitglieder der Schule, die ich ebenfalls nennen sollte, aber diese Aufgabe muss ich anderen überlassen."
Ich erlaube mir, nur - nach der Lektüre dieses Buches - noch hinzuzufügen: Schade!
(Rezension: Volker Nollau)