Wer ist Alexander Grothendieck?
Anarchie, Mathematik, Spiritualität, Einsamkeit
Eine Biographie
Teil 3: Spiritualität.
Winfried Scharlau
Books on Demand GmbH 2010, 264 Seiten, 18 €
ISBN-10: 3839149398
ISBN-13: 978-3839149393
Auf der Rückseite des Einbandes seines Buches schreibt der Autor:
Alexander Grothendieck ist einer der bedeutendsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts. Sein Werdegang ist von einzigartiger Dynamik, und schon zu seinen Lebzeiten ranken sich um seine Herkunft, seine Eltern, sein wissenschaftliches Werk, seine späteren Meditationen und seinen Rückzug aus der menschlichen Gemeinschaft zahlreiche ‚Legenden‘. Dieser dritte Band seiner Biographie behandelt die Zeit nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Forschung im Jahr 1970 bis zu seinem Verschwinden aus der Öffentlichkeit 21 Jahre später. Es wird über sein Engagement in der Umweltbewegung, seine Hinwendung zum Buddhismus und später zu esoterischen und christlichen Vorstellungen berichtet, und es werden seine philosophischen und mathematischen Bekenntnisschriften diskutiert.
Und im Vorwort lesen wir:
Ich lege diesen Band mit einigem Zweifel und nach längerem Zögern der Öffentlichkeit vor. Zum einen standen mir für dieses Buch viele vorhandene Dokumente nicht zur Verfügung, und viele Zeitzeugen konnten oder wollten nur unvollständig Auskunft geben, so daß in meinem Bericht große Lücken bleiben und sich gewiss auch manche Fehler eingeschlichen haben. Zum anderen hat Grothendieck selbst meine biographische Arbeit als ‚unerwünscht‘ bezeichnet; er hat mich allerdings nicht aufgefordert, sie zu beenden...
Abschnitt 1 enthält eine kurze Beschreibung des Ereignisses, das, wie der Autor bemerkt, Grothendieck selbst später viele Male als die ‚große Wende‘ in seinem Leben bezeichnet hat. Es handelt sich um die Erklärung seines Rücktritts aus dem Institut des Hautes Études Scientifiques (IHÉS) am 24. Mai 1970. Der Autor bemerkt dazu (S. 8):
Es war der Beginn eines Abschieds aus der Welt der Wissenschaft, und nicht nur das, es war der Beginn seines Abschieds von allem.
In dem vorliegenden Buch versucht der Autor die inneren Beweggründe zu erhellen, die zu dieser großen Wende in Grothendiecks Leben geführt haben, und berichtet über seine geistige Entwicklung und sein Leben nach dieser Wende. Seine Ausführungen beruhen auf umfangreichen Nachforschungen, Dokumenten und Gesprächen.
Der Autor beginnt mit einer Auflistung der wichtigsten Etappen seiner beruflichen Tätigkeit ab 1970: Gastprofessur am Collège de France; eine auf 1 Jahr befristete Stelle an der Universität von Orsay; Reisen, vor allem in Nordamerika; persönliche Professur (Professeur â titre personnel), die er mehrere Jahre an der Universität von Montpellier ausübte; Anstellung am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS); Pensionierung im Jahre 1988. Er berichtet auch im Überblick über seine politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten in diesen Jahren: Kampf gegen Militarismus und Aufrüstung; Einsatz für die Bewahrung der ökologischen Grundlagen; Forderung nach einer neuen Gesellschaftsordnung und selbstbestimmten Lebensformen. Dann geht er auf die Gründe ein, die Grothendieck zu der ‚großen Wende‘ in seinem Leben geführt haben und bemerkt dazu (S. 9):
Kollegen, Schüler und Freunde haben sich alle die Frage gestellt, was die Ursache und Auslöser für diesen Schritt gewesen sind. Niemand vermag eine definitive Antwort zu geben. Genauso sicher ist aber auch, daß jeder Versuch seiner Lebensbeschreibung sich dieser Frage stellen muß.
Um die inneren Beweggründen für Grothendiecks Verhalten besser zu verstehen, benennt der Autor im zweiten Abschnitt wichtige Antriebskräfte, die Grothendiecks Leben bestimmt haben, und bezieht sich dabei auf entsprechende Äußerungen Grothendiecks. Genannt werden in diesem Zusammenhang: die Mathematik, die Suche nach einer Gefährtin, die Meditation. Im weiteren Abschnitten werden wichtige Ereignisse und Phasen in Grothendiecks Leben genauer beschrieben. Dazu zählen seine mathematische Vortragstätigkeit in Hanoi und der weiteren Umgebung von Hanoi während der Zeit des Vietnamkrieges sowie sein Verhalten während der sogenannten Studentenrevolution von 1968. Schließlich berichtet der Autor in Abschn. 5 über die Monate Juni bis September 1970, in denen sich seine ‚große Wende‘ vollzog. In Abschn. 6 wird ausführlich über Grothendiecks Engagement für die Umwelt und seine Beschäftigung mit den geistigen und kulturellen Grundlagen unserer Zivilisation berichtet. In diesem Zusammenhang erwähnt der Autor auch Grothendiecks Auftreten bei dem ICM-Kongress in Nizza und gibt einen ausführlichen Bericht über die Ziele und Aktivitäten der von Grothendieck ins Leben gerufenen Gruppen Survivre und Vivre im Umfeld der einsetzenden Umweltbewegung. Abschnitt 7 schildert Grothendiecks Tätigkeit als Professor am Collège de France und in Orsay in den Jahren 1970 bis 1973. In Abschn. 8 werden Grothendiecks politische Aktivitäten gegen die finanzielle Förderung von mathematischen Tagungen durch das Militärbündnis der NATO beschrieben; dieser Abschnitt endet mit den Worten (S. 81):
Man kommt an dieser Stelle zu einem entscheidenden Punkt in Grothendiecks Leben. Früher war gesagt worden, daß er ‚in einer anderen Welt lebte‘. Die Mathematik war die Brücke, die diese andere Welt mit der unsrigen verband. Als Grothendieck begann, diese Brücke einzureißen, oder sich weigerte, sie noch zu überqueren, da mussten auch persönliche Beziehungen zu ihm abreißen.
Abschnitt 9 ist den Jahren 1971 bis 1973 gewidmet, in denen Grothendieck Gastprofessuren in Kingston und Buffalo innehatte. Abschnitt 10 enthält eine einfache, gut lesbare Einführung in die Thematik der sogenannten Weil-Vermutungen, die von Systemen von Polynomgleichungen über endlichen Körpern handeln, und die, wie der Autor berichtet, nach Grothendiecks Aussage eine ganz wesentliche Motivation für dessen eigenes mathematisches Werk waren. In den Abschn. 11 bis 17 beschreibt der Autor weitere Stationen und Episoden in Grothendiecks Leben und geht auch auf seine familiären Verhältnisse ein. Insbesondere beschreibt er Grothendiecks ‚Rückzug aufs Land‘ und das damit verbundene Leben in verschiedenen Kommunen, seine Tätigkeit als Professor in Montpellier in den Jahren von 1973 bis 1984 und seine dortige Arbeitsgruppe, seine Arbeit als ‚Directeur des Recherches‘ am CNRS in den Jahren 1984 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1988 und seine Begegnung mit dem Buddhismus. Abschnitt 18 trägt den Titel „Die Meditationen“ und beginnt mit den Worten (S. 157):
Mit Beginn des Jahres 1979 kam es zu einer wesentlichen Wende in Grothendiecks intellektuellem Leben, auch wenn diese Wende zunächst nicht sichtbar wurde. Er begann mit der Niederschrift der ersten von zahlreichen ‚Meditationen‘...
Eine Meditation ist nach den Worten des Autors für Grothendieck
...das schriftlich niedergelegte Ergebnis eines langen gedanklichen Prozesses... (vgl. S. 157).
Es gibt mehrere solche Meditationen, die zum Teil hunderte, manchmal auch tausende von Seiten lang sind. Der Autor gibt zunächst einen kurzen Überblick über diese Meditationen und geht in den folgenden Abschnitten näher auf deren Inhalte und auf die Umstände, unter denen sie geschrieben wurden, ein. Genannt werden: „L’Eloge de l’Inceste“, eine Schrift, die, wie der Autor berichtet, von Grothendieck als ein poetisches Werk angesehen wird; eine Schrift über Grothendiecks Eltern, die, wie der Autor vermutet, wohl nicht mehr existiert; „La Longue March a travers la Théorie de Galois“, eine umfangreiche Untersuchung über Modulräume
Es ist ein eindrucksvolles Buch, das dem Leser die Dynamik der geistigen Entwicklung von Alexander Grothendieck einfühlsam, präzise und mit respektvoller Distanz nahebringt und das die Gründe für die ‚große Wende‘ in Grothendiecks Leben erhellt. Und man kann dem Autor nur zustimmen, wenn er schreibt (S. 258):
Ich sehe es als eine dringende Aufgabe der wissenschaftlichen Gemeinschaft an, Grothendiecks wissenschaftlichen und privaten Nachlass für die Zukunft zu bewahren und fachgerecht zu archivieren.
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, März 2012, Band 59, Heft 1
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Rezension: Hans Opolka (Braunschweig)