die theorie die nicht sterben wollte

Die Theorie, die nicht sterben wollte
Wie der englische Pastor Thomas Bayes eine Regel entdeckte, die nach 150 Jahren voller Kontroversen heute aus der Wissenschaft, Technik und Gesellschaft nicht mehr wegzudenken ist

Sharon B. McGrayne
Verlag: Springer Spektrum 2014, 365 Seiten, 29,99 €

ISBN-10: 3642377696
ISBN-13: 978-3642377693

Rezensionen von Reinhard Viertl (Wien) und Hartmut Weber (Kassel)

Schon der Untertitel des Bandes am Titelblatt sagt sehr viel über dieses gelungene Werk aus. „Wie der englische Pastor Thomas Bayes eine Regel entdeckte, die nach 150 Jahren voller Kontroversen heute aus Wissenschaft, Technik und Gesellschaft nicht mehr wegzudenken ist.“

Dieses exzellente, aus dem Englischen übersetzte Buch, das die Autorin in zehnjähriger Arbeit verfasst hat, ist eine umfassende Beschreibung Bayes’scher Methoden, die auch die Situation der Bayes’schen Analyse in der Statistik beleuchtet. Bayes’sche Statistik ist ja weit mehr als die Anwendung der Bayes’schen Formel, sondern ein philosophisch anderer Zugang als die klassische Statistik, da sie auch subjektive Information des Analytikers in mathematischer Form zu verwenden erlaubt.

Der Band beschreibt auch die Geschichte der Entwicklung der Bayes’schen Statistik sowie zahlreiche erfolgreiche Anwendungen, wie schon das Inhaltsverzeichnis zeigt. Die fünf Teile des Werkes umfassen folgende 18 Abschnitte:

Teil I mit dem Titel „Aufklärung und anti-Bayes’sche Reaktion“ umfasst drei Abschnitte. Abschnitt 1 „Die Frage nach den Ursachen“ beschreibt die Anfänge der Bayes’schen Ideen im historischen Zusammenhang. Abschnitt 2 „Pierre Simon Laplace: Der Mann, der alles machte“ erläutert dessen Beitrag zur Bayes’schen Analyse. Interessant ist, dass bei Laplace dessen Adelstitel fehlt, während dieser etwa bei Bruno de Finetti angeführt wird. Abschnitt 3 „Viele Zweifler, wenige Verteidiger“ widmet sich dem Rückschlag nach dem Tod von Laplace und beschreibt auch psychologische Aspekte persönlicher Gegensätze.

Teil II „Die Zeit des Zweiten Weltkriegs“ umfasst zwei Abschnitte, nämlich „Bayes zieht in den Krieg“, worin die erfolgreiche Rolle Bayes’scher Analyse für die Entschlüsselung von Geheimnachrichten geschildert wird. Abschnitt 5 „Noch einmal tot begraben“ schildert die Situation Bayes’scher Ideen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Teil III „Die grandiose Wiedergeburt“ umfasst 5 Abschnitte, deren Überschriften für sich sprechen. Dies sind die folgenden: Abschnitt 6 „Arthur Bailey: Bayes und die Versicherungen“, Abschnitt 7 „Vom statistischen Werkzeug zur Glaubensfrage“, Abschnitt 8 „Jerome Cornfield: Lungenkrebs und Herzinfarkt“, Abschnitt 9 „Bayes und das Unmögliche: Unfälle mit Atombomben“ sowie Abschnitt 10 „Varianten des Bayes-Theorems“, in dem auch auf unscharfe Varianten des Bayes’schen Theorems hingewiesen wird.

Teil IV „Die Nützlichkeit von Bayes“ enthält ebenfalls 5 Abschnitte: Abschnitt 11 „Business-Entscheidungen“, Abschnitt 12 „Wer schrieb die Federalist-Artikel?“, Abschnitt 13 „Kalte Krieger“, Abschnitt 14 „Three Miles Island“ und Abschnitt 15 „Eine Wasserstoffbombe fällt ins Meer“. Dieser Teil führt die Nützlichkeit der Anwendung Bayes’scher Methoden bei realen Problemen drastisch vor Augen.

Der letzte Teil V „Der Sieg des Bayes-Theorms“ ist selbsterklärend. Abschnitt 16 „Heureka!“ erläutert, wie durch die Computerrevolution viele Bayes’sche Analysen komplexerer Art möglich wurden, welche wichtige Anwendungen bewältigen können. Diese reichen von medizinischen Problemen über Risikoanalysen, Umweltanalysen, Bildverarbeitung bis zu Problemen der Künstlichen Intelligenz. Heute kann man sagen, dass die Bayes’sche Statistik sich den ihr zustehenden Platz in der Statistik erobert hat. Abschnitt 17 „Bayes und die babylonische Sprachverwirrung“ beschreibt den Erfolg Bayes’scher Analysemethoden und zeigt, dass die Kontroversen zwischen Bayesianern und anderen Statistikern abgekühlt sind. Mit der Verleihung des Nobelpreises an Daniel Kahnemann hat die Entscheidungsfindung nach rationalen Bayes’schen Verfahren große Anerkennung gewonnen. Allerdings ist der Standpunkt mancher Bayesianer, dass alle Ungewissheit mittels Wahrscheinlichkeiten zu beschreiben sind, nicht haltbar, wie neuere Arbeiten der mathematischen Beschreibung von Unschärfen zeigen. Abschnitt 18 „Epilog: Der Air France-Flug 447 Rio de Janeiro – Paris“ erklärt, dass Bayes’sche Methoden bei der Suche nach Wrackteilen schließlich zum Erfolg geführt haben.

Ein Kapitel „Anmerkungen“ gibt interessante Verweise sowie einige interessante Bemerkungen historischer und psychologischer Art. Ein Glossar erklärt die wichtigsten Begriffe und eine Bibliografie, die über 700 Publikationen umfasst, ein gutes Sachverzeichnis sowie ein Namensverzeichnis mit über 400 Einträgen runden die Darstellung des gelungenen Werkes ab.

Zusammenfassend ist das Buch als großartige Darstellung der Entwicklung Bayes’scher Methodik seit ihren Anfängen zu bezeichnen. Jedem, der an Statistik oder Entscheidungsanalyse aus formaler oder historischer Sicht interessiert ist, kann das Werk bestens empfohlen werden.

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Oktober 2015, Band 62, Heft 2
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Rezension: Reinhard Viertl (Wien)


 

In weiten Teilen spannend wird hier die Geschichte eines speziellen mathematischen Themas sehr ausführlich dargestellt: Die Entdeckung des sogenannten Bayes-Theorems im 18. Jahrhundert, die historische Entwicklung seiner Anwendungsmöglichkeiten im 20. und – nicht zuletzt – die wissenschaftstheoretische Kontroverse zwischen zwei verschiedenen Auffassungen über den Wahrscheinlichkeitsbegriff. Während der Satz von Bayes in der praktischen Anwendung anerkannt ist und schon lange benutzt wird, ist der wissenschaftstheoretische Hintergrund offensichtlich bis heute nicht unumstritten.

Ich möchte (in Anlehnung an Wikipedia) die beiden Richtungen dieses Wissenschaftsstreits kurz charakterisieren: Der frequentistische Wahrscheinlichkeitsbegriff (auch objektive Wahrscheinlichkeit genannt) interpretiert die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses als die relative Häufigkeit, mit der es in einer großen Anzahl gleicher, wiederholter, voneinander unabhängiger Zufallsexperimente auftritt

In der Bayesschen Statistik ist die Wahrscheinlichkeit hingegen eine (subjektive) Aussage über die Plausibilität des Eintretens eines Ereignisses. Daher ist in der Bayesschen Statistik kein Zufallsexperiment als Grundlage notwendig. In ihr werden immer bedingte Wahrscheinlichkeiten betrachtet, d. h., wie wahrscheinlich (plausibel) es ist, dass Aussage A eintritt, wenn B eingetreten ist (es also Vorwissen gibt).

Bei der Betrachung der bedingten Wahrscheinlichkeit P(A|B) interessiert oft die „inverse“ Wahrscheinlichkeit P(B|A). Für deren Berechnung ist der Satz von Bayes zuständig. Die Apriori-Wahrscheinlichkeit für das Ereignis kann oft genau bestimmt werden (objektiv), manchmal stecken darin aber unsichere Annahmen (subjektiv). Über die Zulässigkeit dieser sogenannten Prioren geht die genannte Kontroverse. Diese können – wenn nicht durch Häufigkeiten bekannt – in der Bayesschen Statistik sogar anfangs willkürlich gewählt werden, werden dann in einem Iterationsprozess durch die berechneten Aposteriori-Wahrscheinlichkeiten ersetzt. Nach der frequentistischen Auffassung ist ein willkürlich gewählter Prior, auch wenn er plausibel erscheinen mag, nicht zulässig.1

Die Autorin ist keine Mathematikerin. Mit Ausnahme von sechs ein- bis zweiseitigen Exkursen enthält das Buch keine exakten mathematischen Aussagen oder gar Formeln. Es werden vielmehr wichtige Mathematiker bzw. Statistiker (die sich oft ohne Mathematikstudium als Wissenschaftler aus verschiedenen Bereichen wie Genetik oder Ökonomie der Statistik verschrieben haben) mit ihren Arbeitsgebieten und wissenschaftlichen Ergebnissen beschrieben. Dabei kommen auch deren individuellen Vorlieben, persönliche Feindschaften und kollegiale Zusammenarbeit wie auch private Aspekte ihres Lebens zur Sprache. Die teils anekdotenhafte Darstellung liest sich meist sehr unterhaltsam.

In den vielen Beispielen aus der Geschichte der Statistik des 20. Jahrhunderts ist auch immer wieder die wissenschaftliche Kontroverse ein wesentliches Thema. Es werden viele Anwendungsbereiche beschrieben, in denen die Statistik zu beeindruckenden Erfolgen geführt hat. Als Beispiele seien genannt: Kriminologie (Gutachten in Strafprozessen), Kryptologie (Dechiffrierung), Epidemiologie (Versuchsreihen zur Suche nach Ursachen chronischer Krankheiten), Entscheidungs- und Spieltheorie, Pharmazie (randomisierte, klinische Testreihen, Studien zum Placebo-Effekt), Atomtechnik (Rasmussen-Report zur Sicherheit von Atomkraftwerken), Informatik (u. a. Spam-Filter, Techniken bei Bildverarbeitung und Handschriftenerkennung).

Besonders aktuellen Bezug haben mehrere Kapitel, in denen die Suche nach (durch einen Flugzeugunfall verloren gegangenen) Atom- und Wasserstoffbomben sowie nach der 2009 im Atlantik auf dem Flug von Rio de Janeiro nach Paris abgestürzten Maschine der Air France. Laut Beschreibung der Autorin haben in allen Fällen Methoden der Bayes-Statistik beim Auffinden der Objekte geholfen. Ob solche Verfahren auch bei der Suche nach dem im März 2014 vermissten malaysischen Flugzeug MH370 helfen werden?

Wegen des Fehlens mathematischer Präzision bleibt in vielen Fällen unklar, welche Rolle genau die Verfahren der Bayes-Statistik gespielt haben. Sehr blumig bleiben auch Ausführungen wie: „Das Bayes-Theorem ... liefert uns einen Ansatz, wie wir in den weiten Bereichen des Lebens weiterkommen, die in der Grauzone zwischen absoluter Wahrheit und völligem Nichtwissen liegen.“ oder „Nach langen schmerzhaften Jahren der leidenschaftlichen Verdammung weist Bayes heute einen Weg, rational mit der Welt umzugehen.“

Nebulös klingen auch die im Schlusskapitel erwähnten Andeutungen, dass Bayes als „theroretisches Modell dienen [kann], um das Funktionieren des Gehirns zu erklären“. Wie soll man die Aussage verstehen, dass „das ’Bayessche Gehirn’ zu einer Metapher für das menschliche Gehirn schlechthin geworden [ist], das die Wahrscheinlichkeit nachahmt“?

In den Exkursen, die von der Autorin nicht allein verfasst worden sind, werden an (bekannten) Beispielen (u. a. Mammographie-Screening, Vererbung der Bluter-Krankheit, Justizirrtum) bedingte Wahrscheinlichkeiten mit dem Satz von Bayes berechnet und die für den Laien oft verblüffenden Ergebnisse interpretiert.

Ein Literaturverzeichnis von 30 Seiten belegt die ausführlichen Recherchen, die die Autorin geleistet hat.

1 Eine etwas ausführlichere Beschreibung mit Rechenbeispielen zu dieser Thematik findet man unter
  http://homepage.univie.ac.at/franz.embacher/Lehre/aussermathAnw/Bayes.html

Rezension: Hartmut Weber (Uni Kassel)