Mathematik Neu Denken
Impulse für die Gymnasiallehrerbildung an Universitäten
Albrecht Beutelspacher, Rainer Danckwerts, Gregor Nickel, Susanne Spies, Gabriele Wickel
Vieweg+Teubner (2011), viii+224 Seiten, 29,95 €
ISBN-10: 3834816485
ISBN-13: 978-3834816481
Seit dem Wintersemester 2005/2006 gibt es an den Universitäten Gießen und Siegen das von der Deutschen Telekom Stiftung geförderte Projekt „Mathematik Neu Denken“. Erklärtes Ziel ist die Verbesserung der universitären Lehrerbildung im Fach Mathematik für das gymnasiale Lehramt (im weiteren Verlauf kurz „Lehramtsstudium“ genannt). Quasi als vorläufiger Abschlussbericht möchte das vorliegende Buch, dessen Autoren an der Konzeption und Durchführung des Projekts wesentlich beteiligt sind, dem Leser Einblicke in Voraussetzungen, Ziele und Umsetzung geben.
Ausgangspunkt ist die durch etliche Untersuchungen belegte Unzufriedenheit eines nicht unerheblichen Teils der Lehramtsstudierenden mit ihrem Studium: Die fachwissenschaftlichen Anteile seien zu umfangreich, zu theoretisch und zu wenig „berufsrelevant“. Das ist weder überraschend noch ein auf Dauer haltbarer Zustand – hier soll und muss die Hochschule gegensteuern, auch wenn ich die Auffassung der Studierenden so nicht teilen kann. Denn unter den Unzufriedenen befinden sich auch diejenigen, die jeden, aber auch jeden mutmaßlich über die Schulmathematik hinausgehenden Stoff als „nicht relevant“ und „zu abstrakt“ ablehnen. Dem nicht nur hier üblichen Argument „wir brauchen mehr Absolventen“ kann ich nur entgegnen: Solche Lehrer brauchen wir nicht!
Kommen wir zurück zum Buch, das ich mit großem Interesse aufgeschlagen habe, um mich über die Konzepte der beiden beteiligten Universitäten zu informieren. Doch bereits auf Seite 3 (und wahrlich nicht nur dort) musste ich dann lesen, dass das „Ziel des Pilotprojektes [...] eine Professionalisierung des Lehramtsstudiums“ wäre. Professionalisierung? Was um alles in der Welt haben denn die Hochschulen bisher gemacht? Haben wir nur abstrakten Unsinn betrieben und die Lehramtsstudierenden völlig ignoriert? Ist an den Hochschulen eine Laientruppe mit der Ausbildung unserer zukünftigen geistigen Elite betraut? Sind exzellente Mathematiklehrerinnen und -lehrer nicht wegen, sondern trotz des Lehramtsstudiums exzellent? Gegen solche Anspielungen möchte ich mich energisch verwahren! Trotzdem habe ich zunächst noch geglaubt, der oben gescholtene Begriff sei ein Terminus technicus der Didaktik. Leider trog diese Hoffnung! Unter den vielen Beispielen solch unterschwelliger Behauptungen findet sich das folgende, auf Seite 149 zu lesende:
Die universitäre Mathematikausbildung ist in noch stärkerem Maße als die Schule geprägt von einem Übergewicht der Instruktion: Traditionell überwiegen mit den Vorlesungsphasen, deren Kernbereich die systematische Darbietung mathematischer Gegenstände ist, bereits die instruktionsorientierten Lehrformen. [...] So bleibt zu oft in allen Veranstaltungen zur Mathematik das „Sprechen über Mathematik“ dem Dozenten vorbehalten. Für fachbezogene Kommunikation der Studierenden entsteht dabei kein Raum. Sie werden in ihrem Verstehensprozess nicht begleitet.
Das steht wirklich da! Ein derart falsches und verzerrtes Bild des Mathematikstudiums kann ich nicht unkommentiert stehen lassen. Eine Vorlesung mag instruktionslastig sein, eine Veranstaltung der Mathematik ist es in keinem Fall! Dies möchte ich anhand einer einfachen Rechnung aufzeigen: Die Vorlesung „Analysis 1“ ist an meiner Hochschule, der Technischen Universität Braunschweig, 10 ECTS wert. Ein mittelmäßig begabter Studierender wird daher etwa 300 Zeitstunden aufwenden müssen, wovon (großzügig gerechnet) 100 Stunden auf die Teilnahme an Vorlesungen und Übungen entfallen. Die restlichen 200 Stunden dienen der Eigenarbeit! Nochmals zum Mitschreiben: Ein Studierender soll rund 200 Zeitstunden zum Nacharbeiten der Vorlesung, Verstehen der Inhalte, Lösen der Übungsaufgaben etc. aufwenden. Ob dies einzeln oder in Gruppen mit fachbezogener Kommunikation geschieht, ob mit Rechner oder mit Papier und Bleistift gearbeitet wird – all das überlassen wir den Studierenden, die sich die für sie günstige Lernform selber aussuchen sollen. Am Ende der Analysis 1 steht dann zwar eine Klausur, die (wie im Buch richtig bemerkt) keinen rechten Aufschluss über die Leistungsfähigkeit eines Studierenden geben kann. Am Ende des Moduls Analysis aber befindet sich eine mündliche Prüfung und damit die meines Ermessens adäquate Methode zur Feststellung der mathematischen Fähigkeiten. Und selbst wenn – wie auf Didaktiktagungen häufig zu hören ist – dabei nur ein kleiner Teil des Stoffes relevant sein sollte: Seit wann lehren wir denn nur für die Abschlussprüfung?Was für ein Bild universitärer Lehre haben diese Leute eigentlich, die ausgewachsenen Mathematikdozenten Methodik und wohlmöglich auch noch Inhalte vorschreiben wollen?
Diese Missachtung des traditionellen Mathematikstudiums schimmert an etlichen Stellen des Buches durch. Dabei sind einige Aspekte des Projekts durchaus bedenkenswert. So soll etwa die Kluft zwischen Schule und Universität durch das Einbringen historischer und philosophischer Aspekte in die Anfängervorlesungen sowie – jedenfalls für die Lehramtsstudierenden in Siegen – einer begleitenden Vorlesung „Schulanalysis vom höheren Standpunkt“ abgemildert werden. Da dann im zweiten Semester bereits eine Veranstaltung zur Didaktik der Analysis hinzukommt, muss irgendwo Stoff reduziert werden. In Siegen wurde dies mit der Reduzierung der Linearen Algebra auf eine einzige Veranstaltung im zweiten Semester erreicht; auch im Gießener Curriculum ist eine Stärkung der Fachdidaktik auf Kosten der Fachwissenschaft zu beobachten. Etliche beachtenswerte Vorschläge zur „neuen Gestaltung“ der Anfängervorlesungen findet man im zweiten, umfangreichsten Teil des Buches. So ganz neu sind viele der Ideen zwar nicht, aber hübsche Anregungen für die eigene Vorlesung bietet dieser Teil doch.
Den im letzten Teil des Buches vorgestellten (intern und extern durchgeführten) Evaluierungen des Projekts kann man entnehmen, dass das Pilotprojekt bei den Lehramtskandidatinnen und -kandidaten recht gut angekommen ist und viel zu deren Motivation beigetragen hat. Von diesem Stand aus extrapolieren die Autoren und bieten dem Leser einen „idealtypischen“, im fachwissenschaftlichen Anteil reduzierten Studienplan an. Über etwaige negative Folgen hat man sich hierbei allerdings weniger Gedanken gemacht! So konnte man in früheren Zeiten mit einem guten Staatsexamen in der Mathematik fast problemlos eine Industriekarriere einschlagen. Mit dem „Master of Education“ haben sich diese Chancen nach meiner Beobachtung bereits jetzt verringert. Wollen wirklich alle Lehramtsstudierende jetzt auch noch die Durchlässigkeit zwischen Lehramts- und Fachstudium erheblich vermindern? Vielleicht gibt es doch gute Gründe, eine Reform des Lehramtsstudiums nur sehr vorsichtig und zögernd anzugehen. Mich jedenfalls hat vorliegende Buch von dem Projekt „Mathematik Neu Denken“ nicht überzeugt!
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, März 2012, Band 59, Heft 1
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Rezension: Harald Löwe (Braunschweig)