Experimentelle Mathematik
Eine beispielorientierte Einführung
Jonathan Borwein, Keith Devlin
Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg (2011), 158 Seiten, 17,90 €
ISBN: 978-3-8274-2661-1
Dieses nach einer Idee des Verlegers Klaus Peters entstandene Büchlein von Jonathan Borwein und Keith Devlin liegt nun, zwei Jahre nach Erscheinen der Originalausgabe („The computer as crucible“), auch in deutscher Übersetzung vor. Durch das Zusammenspiel der beiden Autoren – Borwein ist einer der bekanntesten und profiliertesten Vertreter der experimentellen Mathematik sowie Autor diverser Bücher zu diesem Thema, Devlin hat sich neben der Beschäftigung mit mathematischer Kognitionswissenschaft als Wissenschaftsjournalist einen Namen gemacht – wird die Sichtweise von innen sowie von außen auf dieses relativ neue Teilgebiet der Mathematik auf fruchtbare Weise kombiniert.
Die Autoren haben sich hierbei zum Ziel gesetzt, anhand zahlreicher Beispiele einen Einblick in einige Möglichkeiten zu geben, wie ein leistungsfähiger Computer mit Computeralgebrasystemen (CAS), numerischen Werkzeugen sowie geeigneten Datenbanken die Mathematikerin bzw. den Mathematiker beim Beweisen von Sätzen und Erkennen von Zusammenhängen unterstützen und neue Möglichkeiten eröffnen kann. Das Buch präsentiert, angereichert und aufgelockert durch Anekdoten, historische Bemerkungen und diverse amüsante und pointierte Zeichnungen, verschiedene interessante und teils erstaunliche Beispiele und Spielweisen des experimentellen Zugangs.
Zwar stellt die Experimentelle Mathematik seit jeher (allerdings ohne Computereinsatz, sondern in Form langer Rechnungen auf Papier) einen wichtigen Bestandteil der Arbeit aller bedeutenden Mathematikerinnen und Mathematiker auf dem intuitiv experimentierenden, suchenden und probierenden Weg zu letztendlich analytisch beweisbaren Hypothesen dar. Jedoch führen die Autoren vor, wie die Mathematik durch fortgeschrittenen Computereinsatz methodisch in die Nähe der klassischen Naturwissenschaften rückt, wobei das Experiment seinen Platz als selbständiger Teil der Mathematik findet, ohne jedoch die Grenzen dieses Zugangs und die Bedeutung des analytischen Beweises außer Acht zu lassen.
Im Anschluss an diese Einführung bestehen die weiteren Kapitel des Buches aus einer Reihe von Beispielen, hauptsächlich aus dem Bereich der reellen Analysis und analytischen Zahlentheorie, die eindrucksvoll die Vorzüge des experimentellen Zugangs in der Praxis vorführen. Jedes Kapitel wird unter der Überschrift „Untersuchungen“ durch eine Reihe Vorschläge und Denkanstöße zu eigenen Experimenten und Betrachtungen abgerundet, durch die die Leserin bzw. der Leser praktische Erfahrungen mit den vorgestellten Werkzeugen und Methoden sammeln kann und zu weiteren Untersuchungen und Versuchen ermutigt wird. Der Anhang liefert hierzu Lösungsvorschläge sowie weitere Denkanstöße und Ausblicke.
Das zweite Kapitel widmet sich dem Problem, eine beliebige Nachkommastelle einer irrationalen Zahl wie π in Binärdarstellung zu bestimmen. Das folgende Kapitel befasst sich mit der (Wieder-)Erkennung von Zahlen oder Folgen aus numerischen Approximationen als Ergebnis einer experimentellen Berechnung, wobei einschlägige Internet-Datenbanken zur Unterstützung der Suche geschlossener Ausdrücke vorgestellt werden. Im Anschluss rücken die Autoren die Riemannsche Zeta-Funktion in den Blickpunkt und beleuchten einige Einsichten, die sich aus experimenteller Perspektive aus ihr gewinnen lassen. Das fünfte Kapitel betrachtet die numerische Auswertung von Integralen und führt vor, wie diese mit den zuvor beschriebenen Methoden zum Auffinden einer analytischen Lösung beitragen können. Das folgende Kapitel widmet sich den Glückstreffern und unverhofften Entdeckungen und stellt einige nützliche Übungen und Tricks vor, das mathematische „Glück“ zu fördern und unterstützen. Im siebten Kapitel kommen die Autoren auf die Zahl π zurück, diesmal zur Basis 10, und diskutieren einige effiziente und schnell konvergierende Verfahren zur Berechnung möglichst vieler Dezimalstellen. Unter dem etwas provokanten Titel „Der Computer kennt mehr Mathematik als Sie“ stellen die Autoren, ausgehend von einer Aufgabe, die Donald Knuth den Leserinnen und Lesern des American Mathematical Monthly stellte und die sich mit experimentellen Mitteln elegant lösen ließ, unter anderem die Lambertsche W-Funktion vor und präsentieren ein weiteres Problem, dessen mit Hilfe von Maple gefundene Lösung nicht nur in der Mathematik, sondern auch in Quantenfeldtheorie und statistischer Mechanik von Interesse ist. Das neunte Kapitel führt einige Grenzwertberechnungen von Folgen und Reihen mit Hilfe von CAS vor und veranschaulicht den Nutzen des experimentellen Zugangs in diesem Bereich. Im folgenden Kapitel weisen die Autoren auf die Grenzen, Risiken und möglichen Nebenwirkungen des experimentellen Zugangs hin und präsentieren einige Beispiele für scheinbar nahe liegende und verführerische Fehlschlüsse bei allzu großem Vertrauen in die Macht der CAS, stellen allerdings auch Vermeidungsstrategien vor.
Das letzte Kapitel liefert schließlich einige Schlaglichter und Beispiele zu Erfolgen des experimentellen Zugangs aus anderen Bereichen der Mathematik, so etwa zu einem topologischen Problem, das sich mit Hilfe von Visualisierungen von (Minimal-)Flächen lösen ließ, einen Ausflug in die Knotentheorie sowie zum Paradebeispiel des Computerbeweises, dem Vierfarbensatz, und schließlich zum Ende des Rundgangs Beispiele aus der komplexen Iteration und sogar formaler Logik und dynamischen Systemen, um einem möglichst breiten Überblick über die Möglichkeiten und Chancen der Experimentellen Mathematik vorzustellen.
Das Buch ist durchgehend gut lesbar geschrieben und stellt eine wohldosierte Gratwanderung zwischen einem Überblick über ein vielfältiges Gebiet und der konkreten Präsentation nachvollziehbarer Beispiele dar, wobei stets die Faszination und Freude der Autoren an diesem sowohl ursprünglichen als auch innovativen Zugang durchscheint.
Obwohl sich das Werk in erster Linie an forschende Mathematikerinnen und Mathematiker richtet, um ihnen das Computerexperiment als heuristisches Werkzeug schmackhaft zu machen, kann es gerade auch Studierenden der Anfangssemester empfohlen werden, die mit seiner Hilfe (und einem CAS) einen spielerischen und praktischen Zugang zur mathematischen Arbeitsweise gewinnen und so in das „Mathematik machen“ eintauchen können. So mag das Buch auch als reichhaltige Quelle an Übungen und Ideen beim Erlernen des Umgangs mit z. B. Maple oder Mathematica dienen und durch Inspiration zu eigenen, weiteren Experimenten zum Aufbau einer mathematischen Intuition beitragen. Nicht zuletzt kann das Büchlein aber auch Lehrkräften und Schülerinnen sowie Schülern der Oberstufe, die ein Mathematikstudium erwägen, ans Herz gelegt werden, da es, abgesehen von etwas Vertrautheit (oder Mut und Unverdrossenheit) im Umgang mit Reihen und Integralen kaum Vorkenntnisse voraussetzt und ihnen einen wertvollen Blick hinter die Kulissen ermöglicht, wie „Mathematik wirklich gemacht wird“ und wie ein Großteil Arbeit im Vorfeld von Sätzen mit eleganten Beweisen wirklich aussieht. Das Buch leistet einen guten Beitrag, um dem wichtigen Prozess der Suche und dem Experiment, die in der (Außen-)Darstellung von Mathematik oftmals nicht mehr wahrgenommen werden, ihren legitimen, eigenen Platz zu verschaffen, und dadurch den (praktischen) Zugang für viele Interessierte zu erleichtern.
Rezension: Gehrt Hartjen (RWTH Aachen) aus Computeralgebra-Rundbrief, Nr. 48 - März 2011