Operative Genese der Geometrie
Peter Bender, Alfred Schreiber
Verlag: epubli GmbH (30. Juli 2012), 39,00 €
ISBN-10: 3844224548
ISBN-13: 978-3844224542
Das Wort „Genese“ im Titel könnte dazu führen, das Buch als Geschichtsbuch der Geometrie anzusehen, was ein Irrtum wäre. Die Autoren heben deutlich hervor, dass ihnen an einem genetischen Unterricht (nach A. I. Wittenberg) gelegen ist, der allerdings auch an der „Aneignung von Wissen und Begriffen nach dem Vorbild wirklicher Vorgänge von Wissenserwerb und Begriffsbildung“ (S. 28) orientiert sein muss. – Bei flüchtigem Hinsehen könnte ferner der Eindruck entstehen, die praktischen Anwendungen sollten radikal im Vordergrund stehen auf Kosten der „reinen“ Geometrie. Dieser Eindruck wäre total falsch. Vielmehr geht es den Autoren darum, die Beziehungen zwischen den Begriffen der Geometrie und den dazu passenden realen Phänomenen deutlich werden zu lassen und damit auch zu zeigen, wieso die Mathematik überhaupt anwendbar ist.
Im Vordergrund der Handlungen („operative Geometrie“) steht die Herstellung von (geometrischen) Gegenständen, die bestimmte Zwecke im menschlichen Leben erfüllen sollen, und weniger die Gegenstände, die die Natur schon produziert hat. Ein Beispiel ist die absolut glatte Tischplatte, die wir aber nicht vollkommen herstellen können: jedoch können wir sie denken. Denken wir uns noch dazu, dass diese ideale Platte unendlich groß (und ohne Dicke) ist, dann können wir sie Ebene nennen. Das ist ein geometrischer Begriff, sogar ein Grundbegriff. Eine wichtige Eigenschaft dieser idealen Ebene ist ihre Homogenität, d. h.: Jede Eigenschaft, die eine Stelle der Ebene aufweist, weist jede Stelle der Ebene auf. Eine Folge davon ist die freie Beweglichkeit im Lager, man kann z. B. die Ebene um jeden ihrer Punkte um jeden Winkel drehen, oder man kann die Ebene beliebig verschieben (festgelegt durch 2 Punkte der Ebene, Vektor). Als Ganzes bleibt sie dabei wieder dieselbe Ebene, ohne einen Punkt außerhalb der Ebene in Mitleidenschaft zu ziehen.
Der gedankliche Prozess von realen Tischplatten zum Begriff „Ebene“ wird von den Autoren Ideation genannt, und sie legen Wert darauf, dass dies keine Abstraktion (also Weglassen) sei, sondern vielmehr ein Akt des Forderns der Eigenschaften des Ideals, „ein Hineinsehen von Eigenschaften“ (S. 21), vor allem der Eigenschaft der Homogenität. Gewissermaßen die Umkehr der Ideation, also der Prozess vom geometrischen Begriff zu möglichen Realisaten, ist genau so wichtig wie die Ideation. Die Autoren nennen es das Prinzip der Exhaustion, also der Ausschöpfung einer Idee durch immer bessere Realisate. Dieses Prinzip sorgt dafür, „dass die Geometrie auf die Wirklichkeit passt“ (S. 25), und zwar möglichst auch im Dienste unserer Lebenswelt. Beide Prinzipien, Ideation und Exhaustion, sollen gewissermaßen eine Einheit bilden. Und diese doppelte Beziehung zwischen Ideal und Realität drücken die Autoren durch diese beiden Zeilen beneidenswert schön, kurz und bündig aus (S. 21): „Wirkliches wird begriffen, Begriffe werden verwirklicht.“
Außer Gerade und Ebene gibt es weitere Flächen und Linien, die durch Homogenität ausgezeichnet sind, nämlich Kugeloberfläche und Kreislinie sowie Zylinderoberfläche und Schraubenlinie. Im Beispiel der archimedischen Schnecke (S. 98–109, Abb. 73–85) geht es begrifflich um die (unendlich gedachte) Zylinderoberfläche, in deren Inneres eine (eventuell mehrere) Schraubfläche eingepasst ist, die ihrerseits aus sog. Schraubenlinien (oder Helices) zusammengesetzt ist. Die Schraubenlinie ist die einzige homogene nicht-ebene Linie überhaupt, wie die Autoren feststellen (S. 98). Die Abwicklung führt zu weiteren Einsichten, als erstes zur Länge der Schraubenlinie (S. 107), was im allgemeinen Fall bei Raumkurven ohne Infinitesimalrechnung nicht zu haben ist. Die führt weiter zum Glanzpunkt dieses Abschnitts, zur archimedischen Schnecke. Sie besteht aus einem Zylinderrohr, und die Achse ist stabil realisiert und mit der Wendelfläche fest verbunden. Rotiert die Achse und mit ihr die Wendelfläche, so ist die Schnecke imstande, geeignete Materialien (Wasser, Sand, Getreide u. v. a.) zu verschieben.
Zum Äußeren des Wiederabdrucks: Das Buch hat 464 Seiten (ergänzend zur Erstausgabe nun durchgängig mit hilfreichen lebenden Kolumnentiteln), davon 400 Seiten Lehrtext, der aus 10 Kapiteln besteht, ferner aus 12 Seiten chronologisch geordneter Literatur über operative Geometrie, 15 Seiten alphabetisch geordneter Literatur und 22 Seiten Index (Sach- und Personenverzeichnis). Diese gründliche Ordnung ist eine starke Stütze für den Leser des Buches, das man kaum in einem Stück lesen kann, es ist vielmehr bzw. auch ein Nachschlagewerk. Besonders hervorheben möchte ich die 212 Schwarzweißzeichnungen, die auf den Seiten 435–440 der Reihe nach mit Legende versehen sind.
Erfreulich ist der Reprint dieses Buches vor allem deshalb, weil sich in der Gegenwart die Forderung nach einem fächerübergreifenden Unterricht mehr und mehr durchsetzt, u. a. dabei das hoch anspruchsvolle MINT-Programm (Zusammenwirken von Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik im Unterricht). Alle Mathematiklehrer, die sich darum bemühen, das MINT-Programm erfolgreich zu gestalten, werden in diesem Buch nicht nur eine üppige Anzahl von konkreten Beispielen vorfinden, sondern auch die luzide Diskussion übergeordneter Fragen zum Lehren und Lernen. Ich bin darüber hinaus der Meinung, dass die Lektüre dieses Buches unverzichtbar für alle Geometrielehrer ist, auch unabhängig von dem MINT-Programm.
Eines möchte ich garantieren: Jede Lehrerin und jeder Lehrer wird nach der Lektüre unsere Welt anders sehen und wird seine Schulklasse aufs höchste erfreuen.
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Oktober 2014, Band 61, Heft 2
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Rezension: Heinrich W. Winter (Aachen)