Mathematik und Technologie
Christiane Rousseau und Yvan Saint-Aubin
Springer Spektrum, 2012, xv + 609 Seiten, 214 Abbildungen
Paperback: 49,95 €
ISBN-10: 364230091X
ISBN-13: 978-3642300912
eBook: 36,99 €
ISBN: 978-3-642-30092-9
Mit der Frage Welchen Nutzen hat die Mathematik? beginnt das Vorwort dieses nützlichen und gut lesbaren Lehrbuchs. Beantwortet wird die Frage durch die ausführliche Behandlung von Themen mit allseits bekannten Stichworten wie etwa GPS, RSA, JPEG und Google.
Das ausführliche Inhaltsverzeichnis wird auf der Internetseite des Verlages zum Buch zur Verfügung gestellt ebenso wie das Vorwort und die weiteren 47 Seiten des ersten Kapitels über Positionsbestimmung auf der Erde und im Raum. Zu diesem und den im Internet vorgestellten weiteren Kapiteln über Kryptografie mit öffentlichem Schlüssel, Friese und Mosaike, der DNA-Computer und Roboterbewegung gibt es jeweils zusätzliche Links zu Seiten mit den Überschriften Related Content, References, About this Chapter, Supplementary Material. Dazu einige Bemerkungen weiter unten.
Die weiteren Kapitel haben die Überschriften:
Skelette und Gammastrahlen-Radiochirurgie,
Fehlerkorrigierende Codes,
Kryptografie mit öffentlichem Schlüssel,
Zufallszahlengeneratoren,
Google und der PageRank-Algorithmus,
Warum 44 100 Abtastungen pro Sekunde?,
Bildkompression: Iterierte Funktionensysteme,
Bildkompression: Der JPEG-Standard,
Der DNA-Computer,
Variationsrechnung,
Science Flashes.
Hier gibt es zu jedem der Kapitel einen Look Inside Link, über den dann die ersten beiden Seiten des Kapitels gelesen werden können.
Alle Kapitel beginnen mit einem kurzen inhaltlichen Abriss der Auflistung der mathematischen Voraussetzungen und einem Vorschlag zum zeitlichen Aufwand in einer Vorlesung. Danach folgt meist ein geschichtlicher Problemaufriss, dann die Bereitstellung mathematischer Grundlagen und schließlich die mathematische Behandlung; es folgen Aufgaben und Literaturhinweise. Die einzelnen Kapitel lassen sich unabhängig von einander behandeln. Durch diesen Aufbau ist es möglich den vorgestellten Stoff ganz unterschiedlich einzusetzen: in einer selbstständigen Vorlesung, als einzelne Kapitel je nach Anspruch resp. Vorkenntnissen bzw. Studienplan für Proseminare und Seminare. Einzelne Themen lassen sich ohne großen zusätzlichen Arbeitsaufwand in übliche Vorlesungen integrieren um die jeweilige Theorie mit aktuellen Anwendungen anzureichern. Nicht nur der Inhalt des Buches ist also nützlich, sondern auch seine Gestaltung. Das gilt ebenso bei der Lektüre von Interessierten, denn wer hat z.B. noch keine JPEG-Datei angesehen.
Das Buch ist entstanden aus Kursen, die die Autoren ab 2001 an der Universität von Montreal gehalten haben. Sie schreiben dazu auf Seite vi des Vorworts:
Das Hauptziel des Kurses besteht darin, den aktiven und lebendigen Charakter der Mathematik zu demonstrieren, ihre Allgegenwart bei der Entwicklung von Technologien aufzuzeigen und die Studenten und Oberschüler in Modellierungsprozesse einzuführen, die einen Weg zur Entwicklung verschiedener mathematischer Anwendungen darstellen.
Eine Seite weiter wird ausführlich das breite Spektrum der verwandten Mathematik dargelegt. Weiterhin wird im Vorwort überzeugend die Auswahl der Themen begründet und es werden Verwendungsvorschläge unterbreitet.
Erfreulich ist, dass der Übersetzer Manfred Stern den englischen Text an einigen Stellen an deutsche Gegebenheiten angepasst hat: etwa dadurch, dass die Tabelle 12.1. Frequencies of letters in Dickens’s Oliver Twist (p. 371) in der deutschen Fassung durch die Buchstabentabelle von Goethes Leiden des jungen Werthers ersetzt wird (S. 390). An anderen Stellen wäre es wünschenswert gewesen, etwa den Summationsindex i zu ersetzen, um unästhetische Formeln wie
Selbst in der englischen Fassung des Buches wird die Überschrift des letzten Kapitels erläutert: This chapter presents a variety of Science Flashes, small self-contained subjects that can each be covered in an hour or two. Warum bleibt dann Science Flashes unübersetzt? (Miniaturen wäre ein sinngemäßer Vorschlag.) Das naked eye aus dem englischen Text wird auf Seite 415 zum unbewaffneten Auge. Würde bloßes Auge, wie im Duden-Oxford-Wörterbuch, nicht reichen? Die auf Seite 170 erwähnte Abbildung 5.3 ist auch in der englischen Fassung nicht auffindbar. Doch diese Anmerkungen gehören zu einigen Kleinigkeiten, die den Wert des Buches nicht mindern! Bei einem Werk von ca. 600 Seiten lassen sich immer noch individuelle Wünsche formulieren.
In der oben erwähnten Struktur Related Content, About this Chapter, Supplementary Material zu den Seiten der einzelnen Kapitel im Internet werden unter Related Content bzw. References auch einschlägige Bücher bzw. Zeitschriftenartikel mit Hinweisen angezeigt. Die Stelle Supplementary Material bleibt bisher wohl leer.
Wie die im Buch beschriebenen neuen Technologien – etwa zu Google – hier genutzt werden könnten, sei an einem auch sehr ästhetischen Beispiel verdeutlicht. Es beginnt mit Seite 70:
In der alten Stadt Alhambra, dem Sitz der maurischen Regierung von Granada im Süden des heutigen Spaniens, findet man erstaunlich viele Mosaike von überraschender Komplexität. Lange wurde darüber diskutiert, ob die Alhambra-Mosaike alle 17 kristallografischen Gruppen repräsentieren. Grünbaum, Grünbaum und Shephard [4] behaupten, dass das nicht der Fall ist, sondern dass nur 13 Gruppen repräsentiert sind. Sogar angesichts dieser negativen Antwort ist es eine natürliche Frage, ob sich die damaligen maurischen Künstler eines Klassifizierungssystems bewusst waren.
2006 erscheint von Branko Grünbaum in den Notices of the AMS der schöne und aktuellere Artikel What Symmetry Groups Are Present in the Alhambra? Die kontroverse Diskussion dauert immer noch an: Mit Google finden sich neuere Artikel im Netz, die zu belegen versuchen, dass 14 bzw. alle 17 Gruppen in den Mosaiken repräsentiert sind. (s. „B. Lynn Bodner: The Planar Crystallographic Groups Represented at the Alhambra, 2013“ und „Maria Francisca Blanco Blanco, Ana Lúcia Nogueira de Camargo Harris: Symmetry Groups in the Alhambra, 2011“)
Könnten solche von Lesern gefundene Hinweise auf publizierte Literatur nicht vom Verlag als Supplementary Material angegeben werden? Das wäre ein Wunsch des Rezensenten. Denn eine Schlussfolgerung im Kapitel über Zufallsgeneratoren lautet (S. 271): …eher zeigt die Gesamtsituation, dass die Forschung auf diesem Gebiet aktiv und nicht abgeschlossen ist. Dies trifft auch auf die meisten anderen Themen zu und könnte durch aktuelle Hinweise zusätzlich verdeutlicht werden.
2009 erschien jeweils bei Springer die ursprüngliche französische Fassung des Buches, 2008 die englische und nun 2012 die deutsche. Diese Fassung gibt es auch als eBook. Die englische Fassung wurde ausführlich im Zentralblatt für Mathematik (zbMATH) besprochen.
Dieses praktische, gut lesbare Buch hat eine weite Verbreitung verdient.
Rezension: Ralf Schaper, Kassel