Susanne Spies
SieB – Siegener Beiträge zur Geschichte und Philosophie der Mathematik, Herausgegeben von Ralf Krömer und Gregor Nickel Jahrgang 1, Band 2, Universitätsverlag Siegen 2013, 272 Seiten, 22 €
http://dokumentix.ub.uni-siegen.de/opus/volltexte/2013/758/
ISSN 2197-5590
Die Autorin nimmt sich mit ihrer Dissertation an der Universität Siegen eines besonderen mathematischen Themas an. Denn einerseits scheinen Mathematiker die ästhetischen Reize ihres Faches viel intensiver und auch persönlicher zu empfinden als die Vertreter der meisten anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Andererseits hat aber gerade dieser persönliche, um nicht zu sagen intime Charakter der damit verbundenen Wahrnehmungen zur Folge, dass sich noch sehr wenige herausgewagt haben, um das Thema philosophisch und systematisch zu erschließen. Das hat den Vorteil noch recht freier Gestaltungsmöglichkeiten, bürdet der Autorin umgekehrt aber auch grundsätzliche Entscheidungen betreffend Zugang und Aufarbeitung des Themas auf.
Eine erste Entscheidung dieser Art betrifft die Gliederung. Die insgesamt 10 Kapitel verteilen sich auf eine Einleitung (Kapitel 1) und drei Hauptteile. Die Hauptteile tragen die Überschriften „Schönheit und Mathematik“ (Kapitel 2–5), „Mathematik als eine besondere Kunst“ (Kapitel 6–8) und „Anwendung und Konkretisierung“ (Kapitel 9–10). Bereits die große Ähnlichkeit im Aufbau der ersten beiden Hauptteile deutet auf ihre gewichtige Rolle in der Gesamtkonzeption hin. Denn in beiden Fällen folgt auf eine Art Exposition des Themas (Kapitel 2 „Mathematische Schönheit“ bzw. Kapitel 6 „Mathematik als Kunst betrachtet“) eine aus der Philosophie Immanuel Kants (besonders aus seiner Kritik der Urteilskraft) erwachsende Gegenposition (Kapitel 4 „Mit Kant gegen die Schönheit der Mathematik“ bzw. Kapitel 7 „Mit Kant gegen den Kunstcharakter der Mathematik“). Diese Gegenposition wird aber schlussendlich überwunden (Kapitel 5 „Eine Theorie des Schönen in der Mathematik“ bzw. Kapitel 8 „Eine Theorie der Kunstform Mathematik“). Dazwischen eingestreut liegt „Ein Streifzug durch die Geschichte der Mathematikästhetik“ (Kapitel 4) als Ergänzung. Abgerundet wird die Arbeit durch „Perspektiven für das Lehren und Lernen“ (Kapitel 9) und „Klassiker der Mathematikästhetik“ (Kapitel 10).
Eines der Verdienste der vorliegenden Arbeit besteht in der sehr ansprechenden Aufbereitung vorhandenen Materials, das sich seit der klassischen Antike im Laufe von Jahrtausenden angehäuft hat. Mindestens ebenso bedeutend erscheint aber die Eigenleistung, die vor allem im Aufspüren geeigneter begrifflicher Kategorien und Unterscheidungen liegt, mit Hilfe derer es gelingt, dem Material Struktur zu verleihen, auch wenn begriffliche Grenzen in einem Bereich, wo alles mit allem zusammenhängt, naturgemäß nicht immer scharf gezogen werden können. Dies sei an einigen Beispielen erläutert.
Schon das Eingangszitat der Einleitung von G.H.Hardy beginnt mit „The mathematician’s patterns“ (also Muster des Mathematikers) als Trägern mathematischer Schönheit. Ihnen folgt in Abschnitt 1.1 („Kunst, Muster und Mathematik“) eine sehr überzeugende Unterscheidung zwischen Mustern „über“ Mathematik (künstlerische Darstellung von Mathematikern o.ä.), Mustern „durch“ Mathematik (wenn Mathematik z. B. bei der Herstellung von Kunstwerken eingeflossen ist), Mustern „aus der“ Mathematik (z.B. kunstvolle Visualisierungen von Fraktalen) und schließlich Mustern „der“ Mathematiker (auch abstrakte Strukturen, Theoreme, Beweise etc) im Sinne Hardys. Angesichts der Frage, was davon der interessierende Gegenstand ausführlicher mathematikästhetischer Untersuchungen sein soll, entscheidet sich die Autorin mit Hardy für die Muster „der“ Mathematiker.
Diese Entscheidung bewährt sich schon in Kapitel 2 bei der Identifikation von vier wichtigen Elementen mathematischer Schönheit: Tragweite (ein mathematisches Muster ist weitreichend wirksam), Ökonomie und relative Einfachheit (Sparsamkeit der Mittel), epistemische Transparenz (Klarheit und Überzeugungskraft) und emotionale Wirksamkeit (Überraschungseffekte mit Aha!-Erlebnis u. ä.) – durchwegs Kategorien, die sich als sehr tragfähig erweisen.
Im zu Kapitel 2 (Teil I) gewissermaßen parallelen Kapitel 6 (Teil II) wirken als Ausgangspunkte vor allem die meist sehr subjektiven, dennoch aber überzeugenden Zitate weiterer bedeutender Mathematiker neben Hardy (besonders schön z. B. jene in 6.1.2). Zu nennen sind beispielsweise Poincaré, Hadamard, Hasse, Borel, von Neumann und van der Waerden. Zusammen liefern ihre Aussagen erstaunliche Analogien zu dem, was auch vom Nichtkünstler mit Kunst assoziiert, in der Mathematik aber fast ausschließlich von solchen Personen wahrgenommen wird, die Mathematik selbst auf wissenschaftlichem Niveau betreiben. So betont – um nur ein Beispiel zu nennen – Hasse den unwiderstehlichen Drang eines „echten“ Mathematikers, schöne Entdeckungen auch anderen mitzuteilen (siehe 6.4.3) – also ein der Mathematik bzw den Mathematikern gemeinhin nicht unbedingt zugeschriebenes kommunikatives Element.
Dass die Autorin Immanuel Kant mit zwei ganzen Kapiteln (4 und 7) so großen Raum gibt, ist wohl Kants herausragender Rolle vor allem auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie geschuldet. Seine ästhetischen Begrifflichkeiten, deretwegen er die Mathematik als der Ästhetik und Kunst geradezu wesensfremd darstellt, werden durch die Zeugenschaft zahlreicher bedeutender Mathematiker jedoch als inadäquat entlarvt. Man fühlt sich zur Einschätzung genötigt, dass dem großen Königsberger viele Facetten der Mathematik – insbesondere solche, die erst nach seiner Zeit deutlicher zutage traten – schlicht nicht bewusst waren bzw. noch nicht bewusst sein konnten.
Vor allem in den für die Theorie zentralen Kapiteln 5 und 8 gelingt der Autorin eine überzeugende Argumentation für eine Mathematikästhetik als reichhaltiges und für eine allgemeine philosophische Ästhetik inspirierendes Teilgebiet.
Die in Kapitel 10 abschließend diskutierten Beispiele (Eulersche Formel, Irrationalität der Wurzel aus 2) sind Klassiker, die bei einem weiter gefassten Rahmen sicher eine Ergänzung durch noch tiefer liegende Beispiele aus der großen, weiten Welt der Mathematik vertragen hätten. Doch erfüllt das Buch ein gewisses Anliegen vielleicht wirksamer in der vorliegenden Form: nämlich das Anliegen, seine Leser, insbesondere die Mathematiker unter ihnen, zu eigenständigem Nachdenken über das Wesen der Schönheit in der Mathematik anzuregen und sie zu motivieren, bereits vorhandene aber vielleicht noch verborgene Schönheiten deutlicher ans Licht zu heben.
Rezension: Joachim Hilgert (TU Wien)
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Oktober 2017, Band 64, S. 241–243
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags