Ronald S. Calinger
Princeton University Press, 2015, 696 Seiten, 36,99 €
eBook: 35,27 €
ISBN 9780691119274
ISBN 9781400866632
Die vorliegende Biographie sprengt in mannigfaltiger Hinsicht den Rahmen des Üblichen. Obwohl das 696 Seiten umfassende Werk zweifellos als Hauptmotiv Euler und dessen aussergewöhnliche wissenschaftliche Leistungen in den Vordergrund spielt, gelingt es dem Autor überdies in unnachahmlicher Weise die wesentlichen Strömungen philosophischer, theologischer und politischer Denkungsart einzufangen, die das so kurze Jahrhundert der Aufklärung ausmachen.
Die aus chronologisch angeordneten 15 Kapiteln bestehende Monographie – den wesentlichen Stationen der bewegten und ereignisreichen wissenschaftlichen Karriere Eulers angepasst – lässt einerseits den klassischen linearen Leseansatz für eine Erkenntnis steigernde Zeitreise in die Geschichte der Mathematik zu, bietet jedoch auch andererseits, durch das Vorhandenseins eines ausführlichen Sachregisters, die praktische Möglichkeit sich spezifischen Themenkreisen, vom Königsberger Brückenproblem, über die griechisch-lateinischen Quadrate (Problem der 36 Offiziere), zum Prinzip der kleinsten Wirkung, dem großen Fermatschen Satz, oder der Lösung des Basler Problems, zuzuwenden.
Das Namenregister ermöglicht zusätzlich eine penible Beschäftigung mit den wechselseitigen Beziehungen, Querelen und Disputationen zwischen den unterschiedlichen Denkschulen der wissenschaftlichen Aufklärung. Als Beispiel dafür mag die detaillierte Beschreibung von Eulers Verwicklung in zahlentheoretische Fragestellungen dienen, die anhand der langjährigen Korrespondenz mit Goldbach die minutiöse Verfolgung der von Euler erzielten Fortschritte bewerkstelligt.
Callinger zeichnet nebenbei die unbeirrte, jedoch Störungen vom Rang russischer Staatsstreiche oder schlesischer Kriege unterworfene, Umlaufbahn eines wissenschaftlichenWandersterns im Einflussbereich zweier gigantischer politischer Machtzentren, Preussen und Russland, und beschreibt, wie eine mit vernachlässigbarer politischer Masse versehene mathematische Koryphäe zur wesentlichen Gestaltung der neugegründeten Akademien zu Berlin und Sankt Petersburg beitragen konnte.
Zusammenfassend erweist sich Calingers Euler-Biographie als eine wahre Fundgrube mathematisch-historischer Kleinodien und beeindruckt vor allem durch die erstaunliche Vielfalt und Menge an Informationen, die dem Leser zur Verfügung gestellt werden. So haben sich mir aus der Fülle genealogischer Hinweise, die das erste Kapitel bevölkern, vor allem zwei Merkwürdigkeiten unauslöschlich eingeprägt. Die erste betrifft Eulers Großmutter väterlicherseits, – die Tochter eines Zuckerbäckers, der aus dem heimatlichen Vöcklabruck an den Bodensee verschlagen wurde. Kein, wie auch immer gearteter, Grund Euler zu einem Achtel der Eidgenossenschaft streitig zu machen. Dies umso mehr, da (das im 17ten Jahrhundert finanziell nicht allzu glückliche) Österreich das Land Ob der Enns gleich zweimal an die Bayern verpfänden musste.
Die zweite, weitaus interessantere, Merkwürdigkeit betrifft die vorgymnasiale mathematische Ausbildung des jungen Euler, die er seinem Vater Paul zu verdanken hatte. Nicht der erwartbare Einstieg mittels der Euklidischen Geometrie war das Lehrinstrument der Wahl, sondern ein schwieriger algebraischer Text, die „Cosa“ des Schlesiers Christoph Rudolff, in der vom Cossisten Michael Stifel verfassten erweiterten zweiten Ausgabe von 1553. Es klingt paradox, dass Eulers mathematische Initiation einem fatalen Rechenfehler Stiefels zu verdanken ist. Das von ihm für den 19ten Oktober 1533, 8 Uhr früh, berechnete Datum der Apokalypse hat sich, keineswegs bedauerlicherweise, als nicht korrekt erwiesen.
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Oktober 2017, Band 64, S. 221–222
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Rezension: Alexander Mehlmann (TU Wien)