Finding Fibonacci.
The Quest to Rediscover the Forgotten Mathematical Genius Who Changed the World
Keith Devlin
Princeton University Press 2017, 256 Seiten, 24,99 €
ISBN 9780691174860
ISBN 9781400885534
Die dokumentierten Anfänge der Mathematik liegen in Ägypten und Mesopotamien und sind etwa 5.000 Jahre alt. Es spricht vieles dafür, dass in dieser Zeit auch in der Harappa-Hochkultur am Indus schon substantielle mathematische Kenntnisse verbreitet waren. Der Beginn der Entwicklung der klassischen griechischen Mathematik geht eindeutig auf Einflüsse aus Ägypten und Mesopotamien zurück. In der hellenistischen Zeit beeinflusste ihrerseits die griechische Mathematik die Entwicklung der klassischen indischen Mathematik, die ihre Wurzeln vermutlich in der Mathematik der Induskultur und der nachfolgenden vedischen Kultur hatte. Der wichtigste Einzelbetrag dieser indischen Mathematik war die Entwicklung eines Stellensystems für die ganzen Zahlen, das auch die Null als Rechengröße enthielt. Sowohl die griechische als auch die indische Mathematik wurden im Zuge der Islamisierung des mittleren Ostens und Nordafrikas von meist arabisch schreibenden Wissenschaftlern rezipiert und weiterentwickelt. Moderne mathematische Begriffe wie „Algebra“ oder „Algorithmus“ lassen sich ethymologisch auf diese Phase, genauer auf das Buch „al-Kitab al-mukhtasar fi hisab al-jabr wa’l-muqabala“ des persischen Autors al-Khwarizmi, zurückführen.
Von dieser ganzen Entwicklung hatte der westliche Teil Europas nur sehr wenig mitbekommen. Die in ihrem Wissenschaftsverständnis ausschließlich auf Nützlichkeit fixierte römische Kultur hatte komplett darauf verzichtet grundlegende mathematische Literatur wie zum Beispiel Euklids „Elemente“ ins Lateinische zu übersetzen, sondern nur anwendungsorientierte Handbücher. Bei komplizierteren mathematischen Aufgabenstellungen wie zum Beispiel der Kalenderreform durch Julius Caesar griff sie auf griechische Spezialisten zurück. Nach dem Untergang des weströmischen Reiches verfügte man in diesem Gebiet nur noch über marginale von der Kirche genutzte mathematische Kompetenzen. Der Aufstieg der modernen Mathematik westlicher Prägung begann erst im 13. Jahrhundert mit der Verbreitung der griechisch-indisch-arabischen Mathematik in Form von lateinischen und landessprachlichen Texten in Europa.
Keith Devlin beschäftigt sich in seinen beiden Büchern mit eben diesem Neuanfang zu Beginn der italienischen Renaissance, speziell der Rolle von Leonardo von Pisa, genannt Fibonacci, in diesem Prozess. Fibonaccis Hauptwerk „Liber abbaci“ von 1202 war nicht der erste lateinische Text, der auf al-Khwarizmis Algebra-Buch beruhte. Schon 1145 wurde das Buch von Robert von Chester ins Lateinische übersetzt. Es stellt sich die Frage wieso Fibonaccis Wirken die revolutionären Folgen hatte, auf die Devlins Buchtitel anspielen: den Neuanfang mathematischer Forschung in Europa und den Aufstieg der italienischen Stadtstaaten zur Finanz- und Handelsmacht.
Die Quellenlage zur Person Fibonaccis ist ausgesprochen dünn, aber es gibt von der zweiten Auflage des „Liber abbaci“ aus dem Jahr 1228 mehrere mehr oder weniger vollständige Manuskripte. Devlin trägt in „The Man of Numbers“ die verfügbaren biographischen Fakten zusammen und geht auch der Frage nach, wieso einerseits Fibonacci insbesondere von Luca Pacioli in seiner „Summa de arithmetica, geometria, proportioni et proportionalità“ von 1494 eine Schlüsselrolle zugewiesen wird, sich aber in den vielen Rechenbüchern der „Abakisten“ der italienischen Renaissance so wenige direkte Textbezüge finden lassen. Man ging davon aus, dass diese Texte eher an die von Fibonacci selbst erwähnte und als „Liber minoris guise“ bezeichnete vereinfachte Version für Kaufleute des „Liber abbaci“ anschließen. Obwohl der Text nicht überliefert ist, gibt es gute Gründe für diese These. Die Mathematikhistorikerin Rafaella Franci hat in einer Arbeit von 2003 ein anonymes landessprachliches Manuskript von 1290 als wahrscheinliche Kopie dieses Textes identifiziert – und in der Tat orientieren sich die meisten Abakistenbücher inhaltlich an diesem Text. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die erfolgreiche Wiedereinführung der Mathematik im nachrömischen Italien von einem in der Landessprache abgefassten Handbuch für Finanzmathematik angestoßen wurde, während die mathematisch substantiellere lateinische Urfassung vergleichsweise wenig rezipiert wurde.
Keith Devlin beschreibt Inhalt und Rezeptionsgeschichte von Fibonaccis Texten detailreich und unterhaltsam. Insbesondere erklärt er, wieso die Einführung der indoarabischen Zahlen und der zugehörigen Rechenalgorithmen einen solchen Fortschritt gegenüber dem Rechnen mit römischen Zahlen bedeuteten. In „Finding Fibonacci“ wiederholt er viele der schon in seinem Vorgängerbuch „The Man of Numbers“1 präsentierten Informationen, reichert sie aber mit persönlichen Erlebnissen bei seinen Recherchen zum Thema an. So lässt sich „Finding Fibonacci“ sicher mit Gewinn lesen, ohne dass man auf „The Man of Numbers“ zurückgreifen müsste, aber schon wegen der vielen Verweise auf das Vorgängerbuch (allein im Index sind acht aufgeführt) hatte ich das Bedürfnis auch dieses zu lesen und in die Besprechung einzubeziehen.
Inhaltlich neu in „Finding Fibonacci“ ist das Kapitel „Leonardo and the Birth of Modern Finance“, das sich an einem Artikel des Finanzwissenschaftlers William N. Goetzmann orientiert. Speziell in diesem sehr interessanten Kapitel hätte ich mir gewünscht Keith Devlin hätte das Thema selbst nochmal aufgearbeitet und in seiner bekannt luziden Art beschrieben, anstatt unter der Überschrift „Goetzmann’s Thesis“ einfach zehn Seiten aus dessen Artikel zu übernehmen, der sich offensichtlich an Leser mit finanzwissenschaftlichem Hintergrund richtet.
Keith Devlin hat ein kulturhistorisch spannendes Thema aufgegriffen, das es verdient ins Bewusstsein nicht nur der Fachmathematiker gerückt zu werden. Beide Bücher sind lesenswert, man hätte sich aber Doppelungen ersparen können, wenn man eine zweite, erweiterte Auflage von „Man of Numbers“ realisiert hätte.
Rezension: Joachim Hilgert (Uni Paderborn)
1 Keith Devlin: The Man of Numbers. Fibonacci’s Arithmetic Revolution (Walker & Company 2012, 183
Seiten, ISBN 978-0802779083, C 24,32).
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Oktober 2017, Band 64, S. 245–247
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags