Thomas Sonar
Springer Spektrum, 2016, xxvii+596 Seiten, 49,99 €
eBook: 39,99 €
ISBN 978-3-662-48861-4
ISBN 978-3-662-48862-1
In vielen Büchern über Geschichte der Mathematik kann man – mehr oder weniger – über den Prioritätsstreit lesen. Aber erst wenn man eine ausführliche, gründlich recherchierte Darstellung wie die vorliegende in Händen hält, lassen sich die Komplexität dieses Konflikts und dessen internationale Auswirkungen abschätzen. Wegen dieser Tragweite versucht der Autor, nicht nur MathematikerInnen anzusprechen und stellt im ersten Kapitel einen Crashkurs in Differenzial- und Integralrechnung zur Verfügung, damit auch Personen, die diesen Teil der Mathematik nicht gelernt haben, besser einschätzen können, worum es bei diesem Streit aus mathematischer Sicht geht. Aber selbst wenn man diesen Teil sowie die verhältnismäßig wenigen mathematischen Überlegungen überspringt, erhält man dennoch einen interessanten Einblick in diesen Konflikt. Denn die wesentlichen Elemente des Buches sind historische Entwicklungen und persönliche Beziehungen.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den „Riesen, auf deren Schultern“ die beiden Hauptakteure standen. Der Autor beschränkt sich dabei im Wesentlichen auf Isaac Barrow und John Wallis in England bzw. auf dem Kontinent auf Blaise Pascal und Christiaan Huygens. Jeweils zuvor gibt es einen detaillierten Überblick über die Geschichte Englands bzw. über die Frankreichs und der Niederlande im 17. Jahrhundert. Dabei wiederholen sich einige Fakten: Ereignisse, die England und Frankreich betrafen, findet man sowohl in der englischen Geschichte als auch dann später in der französischen Geschichte, und analog für die niederländische.
Kapitel 3 bringt Newtons und Leibniz’ traumatische Kindheit, Schul- und Studienzeit bis zu deren raschen beruflichen Aufstieg: bei Leibniz als Jurist und Diplomat, bei Newton als Professor. Bezeichnenderweise wurde Newton bereits in dieser Zeit in Zwistigkeiten hineingezogen, und zwar mit seinem lebenslangen Feind Robert Hooke. Ein Konflikt mit Leibniz ist noch lange kein Thema, dazu gab es noch keine Berührungspunkte. Zu diesen kam es erst nach und nach, beginnend mit Leibniz’ erster Londonreise. Bei seinen Begegnungen mit englischen Wissenschaftlern agierte Leibniz eher ungeschickt und zeigte sich nicht auf dem letzten Stand wissenschaftlicher Diskussion. Auch Huygens’ Prioritätsstreitigkeiten mit englischen Mathematikern über Rektifizierungsprobleme wie auch über physikalische und technische Fragen (Uhren) begannen das Verhältnis zu belasten. In diese Zeit fielen auch Leibniz’ erste wichtige Erkenntnisse, durch die die Analysis zum Kalkül wurde.
Kapitel 5 behandelt den Briefwechsel zwischen Leibniz und Newton, anfangs ausschließlich über dazwischen geschaltete Personen. In diesen Briefen sprechen die beiden über den jeweils anderen mit ausgesuchter Höflichkeit und Hochachtung. Trotzdem lag in diesem Schriftverkehr der erste Keim zu Unstimmigkeiten, teils wegen Übersetzungsfehlern, teils wegen Auslassungen. Dies wird anhand von Zitaten aus der (meist englischsprachigen) Sekundärliteratur (ins Deutsche übersetzt vom Autor) minutiös belegt.
Das folgende Kapitel beschreibt die Karrieren der beiden Akteure in der folgenden Dekade. Insbesondere wird die Entstehungsgeschichte der „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“ genau beleuchtet. Noch immer zollten Newton und Leibniz einander den gebührenden Respekt. Aber der Konflikt wurde heiß, als vor allem englische Mitstreiter auf den Plan traten, die aus egoistischen oder nationalen Motiven Öl ins Feuer gossen. Davon handelt das 7. Kapitel. Vor allem Fatio De Duillier ist hier zu nennen, den Zeitgenossen bezeichnenderweise „Newtons Affe“ nannten. Hat er auf eigene Faust intrigiert oder mit Newtons Zustimmung? Oder gar in Newtons Auftrag? Jedenfalls schien Newton unter starkem psychischen Druck zu stehen, da er auch mit seinen englischen Kollegen Wallis und Flamsteed in Streit lag. Aber auch auf dem Kontinent wurde durch Sticheleien, vor allem durch Johann Bernoulli, der Konflikt mit der Insel am Brodeln gehalten. Gleichzeitig begann Leibniz’ Kalkül seinen Siegeszug, vor allem durch die Bernoullis, durch l’Hospital (und später dann vor allem durch Euler).
Kapitel 8 – mit dem bezeichnenden Titel „Vernichtungskrieg“ – schildert die letzten Lebensjahre unserer beiden Protagonisten und deren Konflikt, der nun endgültig zu einem Konflikt zwischen England und Kontinentaleuropa geworden war. Jede Seite ließ offenbar keine Gelegenheit ungenützt um der jeweils anderen eines auszuwischen. Und es ging dabai nicht nur um Mathematik, sondern häufig auch um Physik, Astronomie, (Al)Chemie, Philosophie, ja sogar Theologie. Während sich in England immer mehr Personen – vor allem John Keill – an dem Krieg beteiligten, schien Leibniz für sich selbst zu kämpfen. In dieser Situation wandte er sich in einem persönlichen Brief an die Royal Society mit der Bitte Keill mit seinen Anschuldigungen zurückzupfeifen. Doch nach Keills Anhörung wurde just er beauftragt, eine Beschreibung der Vorwürfe und des Disputes zu liefern. Als sich Leibniz in einem weiteren Brief an die Royal Society darüber beklagte, wurde Newton selbst aktiv. Leibniz sprach in diesen Briefen über Newton stets mit dem größten Respekt, allerdings muss festgehalten werden, dass er nicht immer ehrlich war, wenn es um den Zeitpunkt ging, zu dem er erstmals über die eine oder andere Erkenntnis Newtons las.
Mit der Zeit bis zum Tod der beiden beschäftigt sich das 9. Kapitel. Bei Newton, der Leibniz elf Jahre überlebte, war diese Zeit vor allem geprägt durch Überarbeitungen und Neuauflagen seiner Werke. In Kapitel 10 widmet sich der Autor den ersten Anfechtungen der Infinitesimalrechnung, und zwar nicht nur Bishop Berkeley und seinem Werk “The Analyst”, sondern auch Bernard Nieuswentijt, der in ähnlicher Weise Leibniz kritisierte. Durch das gesamte 18. Jahrhundert galt Newton in Großbritannien als der unbefleckte Sieger des Prioritätsstreits, während Leibniz als verschlagener Plagiator betrachtet wurde. Einer der ersten Autoren, die dieses Bild zurecht rückten, war Augustus De Morgan. Davon und vom langen Weg Englands zur Analysis handelt das 11. Kapitel. In einem abschließenden Epilog beschreibt der Autor höchst interessant, wie sich im Zuge der Arbeit an diesem Buch seine Bilder von Leibniz bzw. Newton verändert haben.
Die Seitenzahl (fast 600!) zeigt bereits, dass es sich hier um eine sehr ausführliche Darstellung handelt. Andererseits möge man sich durch diese Zahl nicht abschrecken lassen: eine große Anzahl z.T. ganzseitiger Abbildungen, vor allem von sämtlichen namentlich genannten Perönlichkeiten bzw. von Titelblättern von Publikationen, relativieren den Umfang des Werkes wieder. Die Sprache ist alles andere als trocken – im Gegenteil. Über weite Strecken liest sich das Buch richtig spannend. Doch diese Leichtigkeit soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit diesem Buch ein wertvoller wissenschaftlicher Beitrag – ein Standardwerk – über eine Zeit mit einschneidenden wissenschaftshistorischen Konsequenzen vorgelegt wird.
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Oktober 2017, Band 64, S. 233–235
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Rezension: Manfred Kronfellner (TU Wien)