hilgert

Mathematik - Ein Reiseführer

Ingrid und Joachim Hilgert
Spektrum Akademischer Verlag, (2012), 284 Seiten, 24,95 €

ISBN-10: 3827429315
ISBN-13: 978-3827429315

Einen Reiseführer nimmt zur Hand, wer eine Reise vorhat. Dies ist der Ausgangspunkt der Autoren für ihre in Form eines Reiseführers gestaltete Einführung ins Land der Mathematik (das auf dem Buchumschlag vage an Australien erinnert) – ein interessanter Ansatz, der von Ingrid und Joachim Hilgert erfolgreich umgesetzt wird. Einem touristischen Reiseführer gleich begnügt sich auch der vorliegende nicht damit, die Hauptsehenswürdigkeiten aufzuzählen, sondern widmet sich ebenfalls der Geschichte und Kultur des Landes sowie den Einheimischen und ihrer Sprache.

Als Reisende stellen sich die Autoren in erster Linie Schülerinnen und Schüler vor, die sich für ein Mathematikstudium interessieren. Aber auch nach getaner Reise schaut man gerne noch einmal in einen Reiseführer, um zum Beispiel den geschichtlichen Abriss mit besserem Verständnis erneut zu lesen. Dementsprechend können auch Studenten und Absolventen von diesem Buch profitieren.

Der Mathematik-Reiseführer hat fünf Kapitel und einen Anhang. Das erste Kapitel handelt „Vom Wesen der Mathematik“. Dort geht es um die Abstraktion in der Mathematik, ihre Sprache, um Beweise und Definitionen sowie um mathematische Kommunikation und mathematische Moden. Als Beispiel für erfolgreiche Abstraktion dient in diesem Kapitel der Gruppenbegriff, der so verschiedene Dinge wie Restklassenarithmetik und Symmetriebewegungen eines n-Ecks subsumiert. Ferner taucht als running gag immer wieder das Problem der Lösung polynomialer Gleichungen auf, das unter anderem als Motivation zur Zahlbereichserweiterung verwendet wird. Viele Beispiele erläutern die Thesen der Autoren, die auch mathematischen Anfängern zugänglich sind bzw. sein sollten.

A propos „sein sollten“: Man kann nicht häufig genug betonen, dass die Mathematik ganz besondere Anforderungen an ihre Adepten stellt – nicht umsonst ist die „mathematische Präzision“ sprichwörtlich –, und der Reiseführer trägt einiges zur Verbreitung dieser Wahrheit bei. Nach meiner Erfahrung ist aber in dem Satz (S. 30) „Die Definition von Vereinigung und Schnitt zweier Mengen lässt sich problemlos auf mehr als zwei Mengen verallgemeinern“ (gemeint sind hier insbesondere unendlich viele Mengen) der Begriff „problemlos“ der Autoren nicht mit dem Begriff von „problemlos“ der Mehrheit der Mathematikstudenten kompatibel; und es ist eine Sache, die Definition einer injektiven Abbildung (S. 34) einmal zu sehen, und eine andere, damit auch umgehen zu können. Deshalb ist mir nicht klar, in welchem Grade die Leserinnen und Leser solche Stellen wirklich verinnerlichen – bei allen Bemühungen der Autoren, angehenden Mathematikstudenten die richtige Vorstellung vom Wesen der Mathematik zu vermitteln, um die Überraschung darüber in Grenzen zu halten, „dass an der Universität nur selten gerechnet, dafür aber sehr viel definiert und bewiesen wird“ (S. 11). (Irlandreisende sollten sich ja auch bereits vor ihrer Reise auf das dortige Wetter – dry between the showers – einstellen.)

Kapitel 2 gibt einen ersten Einblick in die Hauptgebiete der Mathematik. Zusätzlich zur klassischen Trias Geometrie-Algebra-Analysis stellen die Autoren recht detailliert die Stochastik vor, und in einem weiteren Abschnitt kommen Gebiete wie Topologie und Optimierung zur Sprache. Dieser Kurzstudienführer wird durch Informationen ergänzt, welche Universitätsvorlesungen mit welchen Inhalten zum Umfeld der genannten Gebiete gehören. Hier kann der Reiseführer also vor Ort eingesetzt werden. Im kurzen Kapitel 3 skizzieren die Autoren einige zeitgenössische Anwendungen (zeitgenössischer!) Mathematik, z. B. GPS, Tumorerkennung, Google-Suche.

Das vierte Kapitel des Reiseführers „Entwicklungslinien“ ist gewiss auch nach der Reise interessant zu lesen. Nach einem Abriss der Geschichte der Mathematik, einiger ihrer Grundlagenkrisen (nichteuklidische Geometrie, Russellsche Antinomie, die Gödelschen Unvollständigkeitssätze) und der Diskussion der Millenniumsprobleme (das sind sieben als äußerst bedeutend eingestufte offene mathematische Probleme, für deren Lösung das Clay-Institut im Jahr 2000 je 1 Million Dollar ausgesetzt hat; eines wurde inzwischen gelöst) befassen sich die Autoren in einer sehr lesenswerten Fallstudie mit der Analogie zwischen der zeitgenössischen Forderung der unmittelbaren Verwertbarkeit mathematischer Forschung (die der reinen Mathematik tendenziell ihre Daseinsberechtigung abspricht) und der im alten Rom vorherrschenden utilitaristischen Haltung zur Mathematik und zur Wissenschaft überhaupt. Wenngleich diese Analogie alles andere als perfekt ist, klingen einige Aussagen von Cicero oder Seneca doch wie die Vorgaben aus dem Haus der ehemaligen EU-Kommissarin Edith Cresson, nur eleganter formuliert.

Im abschließenden 5. Kapitel geht es um die mathematische Ausbildung an Universitäten und Mathematik als Beruf. Die Autoren betonen nochmals die hohe Disziplin, die Studierende der Mathematik aufbringen müssen, und stellen klar, welche Lehrmethoden sie für eher wenig geeignet halten (Projektgruppen, Mooresche Methode, Praxisrelevanz). Der Lohn der Mühen des Studiums ist z. B. aus der Arbeitslosenstatistik abzulesen: Die Arbeitslosenquote der Mathematikabsolventen an deutschen Universitäten im Jahre 2008 lag bei 2,6% und unter Promovierten praktisch bei 0.

Der Anhang ist rein mathematisch und zeigt die Konstruktion der reellen Zahlen via ganze und rationale Zahlen aus den natürlichen Zahlen auf, die axiomatisch vorgegeben werden, und zwar – dies sei für die Profis angemerkt – durch eine Variante der Peano-Axiome, in der die Ordnung bereits eingebaut ist. Zukünftige Reisende ins Land der Mathematik können hier bereits erproben, ob sie die manchmal etwas dünne Luft dort auch vertragen. Wie jedes Kapitel des vorliegenden Reiseführers soll auch diese Rezension mit einem Fazit schließen. Das Buch von Ingrid und Joachim Hilgert ist ein wertvoller Begleiter für alle, die Mathematik studieren wollen oder es bereits tun. Dank des vielfältigen Materials liefert es ihnen wichtige Informationen über das Fach Mathematik und seine Spezifika sowie sein gesellschaftliches Umfeld; es ist sehr flüssig geschrieben und fast tippfehlerfrei, wofür den Autoren und dem bekannt effektiven Lektorat des Spektrum-Verlags gleichermaßen zu danken ist. Der Mathematik-Reiseführer gehört ins Gepäck aller Mathematik-Touristen.

Rezension: Dirk Werner, FU Berlin