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Das Geheimnis der transzendenten Zahlen
Eine etwas andere Einführung in die Mathematik

Fridtjof Toenniessen
Spektrum Akademischer Verlag (2009), 434 Seiten, 24,95 €

ISBN: 978-3-8274-2274-3

Wer kein Mathematiker ist, könnte auf die Idee kommen, ein Buch mit dem Titel Das Geheimnis der transzendenten Zahlen sei für den Esoterikermarkt geschrieben. Leser, die sich aus diesem Grund davon angesprochen fühlen, werden jedoch schnell enttäuscht sein; alle übrigen werden ebensoschnell feststellen, dass es sich hier um ein sehr ungewöhnliches Mathematikbuch handelt.

Was also ist eine transzendente Zahl? Dazu muss man erklären, was das Gegenteil, nämlich eine algebraische Zahl, ist: Dies ist eine Lösung einer polynomialen Gleichung der Form

anxn++a2x2+a1x+a0=0

mit ganzen Zahlen a0an. Zum Beispiel ist √2  solch eine Zahl (sie ist Lösung von x22=0) und √2+√3  auch (das ist eine Lösung von x410x2+1=0). Eine Zahl, die nicht algebraisch ist, wird transzendent genannt. Was kann man über transzendenten Zahlen sagen? Gibt es überhaupt welche? (Ja, sogar viele, aber sie sind mit bloßem Auge nicht leicht zu erkennen.) Wie steht es mit der Kreiszahl , ist die transzendent? (Ja, aber das ist schwierig zu beweisen.) Und die Eulersche Zahl e? (Die auch.) Und e+? (Das weiß bis heute niemand.)

All diese und viele weitere Dinge werden im vorliegenden Buch besprochen, aber so leicht die Fragen gestellt sind, so schwierig (und bisweilen bis auf den heutigen Tag unmöglich, siehe oben) ist es, sie zu beantworten. Dazu ist nämlich eine ganze Menge Mathematik nötig, und die stellt der Autor vor, bevor er am Schluss des Buches den entscheidenden Satz beweist: Ist α≠0 , so sind α und e nicht beide algebraisch. Das zeigt sofort die Transzendenz von e, und da im Satz auch komplexe Zahlen genommen werden dürfen, wegen der berühmten Eulerschen Formel ei=1 auch die Transzendenz von . Letzteres impliziert übrigens die Unmöglichkeit der Quadratur des Kreises mit Zirkel und Lineal; auch das wird im Buch genau erklärt.

Um so weit zu kommen, nimmt der Autor seine Leser auf eine Rundreise durch verschiedene Bereiche der Mathematik: Mengenlehre, Analysis, lineare Algebra, Zahlentheorie, Algebra und schließlich Funktionentheorie werden in einem Umfang entwickelt, der fast einem Bachelorprogramm einer deutschen Universität entspricht. Die Darstellung ist systematisch, aber es ist nicht die Systematik der Lehrbücher; zum Beispiel erscheint der Satz über Umordnungen absolut konvergenter Reihen erst, wenn er gebraucht wird, und nicht direkt bei der Einführung der Reihenkonvergenz.

Die Sprache des Buches lässt die Begeisterung des Autors für seinen Gegenstand spüren, und damit der Funke auch auf die Leser überspringt, spart er nicht mit für ein Mathematikbuch ungewöhnlichen Formulierungen („ein schräger Vektorraum“, „ich behaupte jetzt ganz frech“ etc.) und lädt die Leser immer wieder zum Ausruhen nach besonders schwierigen Überlegungen ein. Alle Argumente werden motiviert, häufig mittels eines einfachen Beispiels, und bisweilen im Nachgang noch einmal zusammengefasst, um den Kern der Sache herauszuarbeiten. Dabei wird stets der Wert mathematischer Abstraktion herausgestellt.

Das Buch ist fast tippfehlerfrei geschrieben; eine Ausnahme ist das Jahr der Veröffentlichung der Leibnizschen Abhandlung zur Integralrechnung, wo der Text um genau 100 Jahre falsch liegt. Ob im übrigen die große Algebraikerin Emmy Noether als Mathematikerin und Physikerin (Hervorhebung von mir) zu bezeichnen ist, halte ich für zweifelhaft.

Fridtjof Toenniessen hat ein außergewöhnliches Mathematikbuch vorgelegt, das, so der Verlag, Laien, Schülern und Studierenden die Faszination mathematischer Forschung zeigen soll. Wie viele Leser dieser Zielgruppe die Kraft aufbringen, die gut 400 Seiten (wie gesagt, etwa ein halbes Mathematikstudium) auf sich selbst gestellt zu meistern, sei dahingestellt. Für fortgeschrittene Studierende und Lehrer ist der Text jedoch ein anregendes Kompendium der reinen Mathematik und wird wärmstens empfohlen.

Rezension: Dirk Werner, FU Berlin