Raneem AlmasriFoto: Christoph EyrichIch treffe Raneem Almasri in einem Besprechungsraum des Instituts für Mathematik der Technischen Universität Braunschweig. Die 22-Jährige Syrerin kommt von einer Mathematik-Vorlesung, keine reguläre, sondern eine Art Schnupper-Kurs, den Karl-Joachim Wirths, Mathematik-Professor im Ruhestand, seit dem Sommersemester 2016 für Flüchtlinge anbietet, die ein ingenieurwissenschaftliches Studium anstreben. Raneem Almasri ist eine von acht Frauen, die an der Veranstaltung teilnehmen. Sie möchte im kommenden Wintersemester allerdings nicht Maschinenbau oder Bauingenieurwesen studieren, sondern ein Mathematikstudium aufnehmen. Wieder aufnehmen, muss es richtig heißen. Denn bis zu ihrer Flucht studierte sie Mathematik an der Al-Baath Universität in Homs. Wir haben eine knappe Stunde Zeit für das Gespräch, das der Informatikstudent Alex Beidoun, ebenfalls aus Syrien, als Übersetzer begleitet. Danach beginnt der Deutschkurs – und Deutsch lernen ist für Raneem Almasri im Moment fast noch wichtiger als Mathematik.

Frau Almasri, Sie haben in Ihrer Heimatstadt Homs ein Mathematikstudium begonnen, warum gerade Mathematik?

Ich mochte das Fach schon als Schülerin. Und zwar viel mehr als andere Fächer wie zum Beispiel Geschichte. Ich wollte immer schon etwas mit Mathematik machen.

Sie möchten an der TU Braunschweig studieren, aber anders als die meisten ihrer syrischen Kommilitonen in der Mathe-Vorlesung kein ingenieurwissenschaftliches Fach, sondern Mathematik.

Ja, das stimmt. Ich möchte das Studium, das ich in Homs begonnen habe, gerne fortsetzen. Ich habe ja schon sechs Semester Mathematik studiert. Wenn ich jetzt das Fach wechseln würde, dann würde das Studium länger dauern. Wenn ich aber bei Mathematik bleibe, dann werden mir einige Kurse angerechnet. Vielleicht brauche ich dann nur noch zwei oder drei Semester bis zum Bachelor- Abschluss.

Sie kommen gerade aus der Vorlesung zur Analysis und Linearen Algebra, die speziell für Geflüchtete angeboten wird. Konnten Sie Ihrem Dozenten folgen?

Den Stoff hatte ich schon in Syrien durchgenommen. Insofern war die Vorlesung für mich eine Wiederholung. Mit der Sprache habe ich noch Schwierigkeiten. Aber wenn Professor Wirths die mathematischen Fachbegriffe nennt und dazu ein Beispiel an die Tafel schreibt, dann kann ich ihm folgen. Denn mit der Mathematik bin ich ja schon vertraut.

Nächste Woche schreiben Sie die erste Klausur. Sie sind also gut vorbereitet und brauchen keine Angst zu haben, dass Sie durchfallen.

Nein, da mache ich mir keine Sorgen.

Müssen Sie trotzdem lernen?

Ja, schon. Nicht das Rechnen selbst, aber die mathematischen Begriffe auf Deutsch. Die Ziffern und die Zahlen zu lesen, das ist für mich kein Problem. Wenn ich zum Beispiel ein Integral sehe, dann weiß ich genau, was ich rechnen muss. Aber wenn ich den Text lese, die Aufgabenstellung, dann wird es schwierig.

Ich habe von Ihrem Dozenten gehört, dass Sie und Ihre Kollegen aus Syrien richtig gut rechnen können.

Das liegt vielleicht daran, dass wir in der Schule in Syrien keinen Taschenrechner benutzen durften. Egal wie groß die Zahlen sind, in der Schule müssen wir alles per Hand rechnen. Erst in der Uni ist es erlaubt, einen Taschenrechner zu verwenden. Erst da lernen wir, wie man zum Beispiel eine Funktion in einen Taschenrechner eingibt.

Im Wintersemester, also im Oktober dieses Jahres, wollen Sie ihr Mathematik-Studium beginnen.

Ja. Bis dahin muss ich aber noch einen Sprachkurs besuchen und am Ende die Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang, die DSH-Prüfung ablegen. Wenn ich bestehe, darf ich hier oder an einer anderen Technischen Universität studieren. Wahrscheinlich werde ich diese Prüfung aber erst im September machen können. Denn ich bin noch im Anfängerkurs A2, dann folgen die Kurse für das Niveau B1 und B2, und erst danach kann ich mich auf die DSH-Prüfung vorbereiten.

Das klingt, als ob die Sprachprüfung im Moment eine höhere Hürde ist als die anstehende Mathematik- Klausur.

Ja, das stimmt. Die Mathe-Klausur ist auch keine Pflicht. Wer sich traut, kann mitschreiben, wer nicht, lässt es. Aber wer besteht, bekommt die Leistung nachher im Studium angerechnet.

Sie haben schon ein wenig Erfahrung mit dem Mathematik-Studium in Deutschland gesammelt. Ist die Art undWeise des Lernens und Lehrens in Syrien anders?

Es gibt schon ein paar Unterschiede. Ich habe den Eindruck, dass die mathematischen Lösungsverfahren, die man hier lernt, irgendwie komplizierter sind. Man könnte die mathematischen Aufgabenstellungen eigentlich einfacher lösen.

Haben Sie ein Beispiel?

Matrizen beispielsweise, dafür gibt es viele Methoden. Und die, die hier unterrichtet werden, sind einfach total kompliziert. Irgendwie anspruchsvoller. Ansonsten hängen die Unterschiede eher mit den einzelnen Dozenten zusammen. Jeder hat halt seine eigene Methode.

Haben Sie schon eine Vorstellung davon, was Sie nach dem Studium machen möchten?

Was ich sicher weiß, ist, dass ich auf gar keinen Fall Lehrerin werden will. Ich möchte gerne in einem großen Unternehmen arbeiten, die Branche ist mir egal. Oder aber als Dozentin in einer Uni unterrichten. Diesen Plan habe ich nicht erst in Deutschland gefasst, den hatte ich schon vorher.

Damit sind Sie in Deutschland eher eine Ausnahme. Hier streben die meisten jungen Frauen, die Mathematik studieren, das Lehramt an. Wie ist das in Syrien?

Anders. In Syrien bin ich keine Ausnahme, viele andere junge Frauen wollen das genauso wie ich. Sie haben oft keine Lust an der Schule zu unterrichten; wenn Unterrichten, dann schon als Dozentin an der Universität. Es ist auch nichts Besonderes, wenn Frauen Mathematik oder auch andere naturwissenschaftliche Fächer wie Physik oder Chemie studieren. In der Mathematik sind Frauen eher in der Mehrheit, die Jungs interessieren sich mehr für Fächer wie Bauingenieurwesen oder Informatik.

Haben Ihre Eltern sie ermutigt, Mathematik zu studieren?

Nein. Aber ich habe einen Cousin in Homs, der Mathematiker ist, und der hat mich immer motiviert.

2014 ist die Fields Medaille, die höchste Auszeichnung in der Mathematik, zum ersten Mal an eine Frau verliehen worden, an die Iranerin Miriam Mirzakhani. Im Iran ist sie für junge Frauen ein großes Vorbild. Für Sie auch?

Ich kenne sie nicht. Mein Vorbild ist mein Onkel. Er ist Bauingenieur. Er hat erst in Syrien studiert und dann in Deutschland seine Doktorarbeit abgeschlossen. Danach ist er zurückgekehrt und unterrichtet nun an der Universität in Homs. Ich möchte es genauso machen wie er, nur eben in Mathematik. Das ist mein Traum.

Nahezu eine Million Flüchtlinge kamen 2015 nach Deutschland. Die meisten flohen vor dem Bürgerkrieg in Syrien. Auch Raneem Almasri hatte sich im Herbst des vorletzten Jahres zusammen mit Eltern und vier Geschwistern von ihrer Heimatstadt Homs aus, einer Rebellenhochburg im Westen Syriens, auf den Weg gemacht. In der libanesischen Hafenstadt Beirut bestiegen sie ein Schiff und gelangten über das Mittelmeer nach Izmir, Türkei, und schließlich nach Griechenland. Von dort ging es mit Bus und Zug über Land nach Deutschland. Es war eine Strapaze, doch die siebenköpfige Familie war niemals in Gefahr. Nach neun Tagen Flucht trafen sie am Hauptbahnhof in München ein. In Wolfsburg hat die siebenköpfige Familie aus Homs ein neues Zuhause gefunden.

Sie leben seit einem Jahr und zwei Monaten in Deutschland, wohnen mit ihrer Familie in Wolfsburg und nehmen seit Oktober 2016 an dem Programm der TU Braunschweig für Flüchtlinge teil. Wenn Sie hierher kommen, fühlen Sie sich mehr als Studentin oder als Flüchtling?

Ich fühle mich ganz normal als Studentin. Und nicht erst jetzt. Denn ich habe in Wolfsburg schon Deutschkurse besucht und habe dort auch viele deutsche Bekannte. Deshalb fühle ich mich schon lange als Studentin, weniger als Flüchtling.

Was vermissen Sie am meisten hier?

Meine Freunde, meine Kumpels.

Wo sind die?

Die meisten sind nach Europa geflüchtet, manche leben jetzt in der Türkei, eine Dozentin von meiner Universität in Homs ist in Deutschland. Wir halten Kontakt miteinander.

Kommen wir noch einmal auf die Mathematik zurück. Was begeistert Sie genau an dem Fach?

Wenn ich ein kompliziertes mathematisches Problem vor mir habe und dann eine oder zwei Stunden rechne und am Ende eine Lösung finde, dann macht mich das sehr froh. Dann habe ich das Gefühl, etwas geschafft zu haben. Das ist es, was mich am meisten begeistert.

Wenn Sie ein paar Jahre in die Zukunft blicken, wo sehen Sie sich?

Mein größter Wunsch ist, Mathematik-Dozentin an einer Technischen Universität zu werden – am liebsten in meiner Heimatstadt Homs.

Kristina Vaillant ist freie Journalistin in Berlin und arbeitet regelmäßig für das Medienbüro der Deutschen Mathematiker-Vereinigung.