Nach Abschluss ihres Bachelorstudiums in Mathematik an der Universität Tübingen war Marie Lins neugierig auf Anwendung und komplettierte ihr Studium mit dem Master „Umweltsysteme und Ressourcenmanagement“ an der Universität Osnabrück. Heute arbeitet sie als Referentin bei der Staatlichen Betriebsgesellschaft für Umwelt und Landwirtschaft (BfUL) in Radebeul nahe Dresden an neuen Methoden für den Bereich Fernerkundung, um das Naturschutz-Monitoring zu unterstützen. Auch wenn sie inhaltlich in ihrer Arbeit nicht mehr viel mit Mathematik zu tun hat, war ihr Bachelor doch der Grundpfeiler, auf dem sie aufbauen konnte.

 LinsMarie Lins. Foto: privat

Du arbeitest an der BfUL im Bereich Naturschutz-Monitoring. Für Mathematikerinnen und Mathematiker erklärt: Was ist denn Naturschutz-Monitoring?

Naturschutz-Monitoring kann man sich wie eine Art Buchhaltung über den Zustand der Natur vorstellen. Das heißt zum einen zu beobachten, wie sich bestimmte Flächen verändern. Dafür besuchen wir diese Flächen alle paar Jahre. Der andere Punkt ist, neue Flächen zu entdecken, bei denen man vielleicht vorher noch nicht vor Ort war, die aber auch Potenzial haben, in eine Schutzkategorie zu fallen. Bei uns an der BfUL kommt der übergeordnete Auftrag direkt von der EU. Die EU-Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, in gewissen Perioden Berichte abzuliefern, um den Zustand bestimmter Arten und Lebensräume zu beschreiben. Damit hat die EU einen Überblick, wie sich diese verändern, zum Beispiel, ob wir einen Verlust von schützenswerten Lebensräumen haben. In Deutschland wird diese Aufgabe auf die Länder übertragen. Die Hauptaufgabe unseres Fachbereichs ist es, diese Berichtspflichten für Sachsen zu erfüllen.

Wie kann man sich die Überwachung der Flächen konkret vorstellen? Welche Methoden kommen dabei zum Einsatz?

Das läuft über Kartierungen. Ein paar werden von uns selbst gemacht, aber der große Teil wird von Kartierbüros übernommen. Wir geben eine Auswahl an Flächen bestimmter Lebensraumtypen beziehungsweise Habitate vor. Das sind nicht jedes Jahr die gleichen, weil es einfach sehr viele, also tausende, Flächen sind. Deswegen gibt es immer eine Auswahl, die nach ein paar Jahren abgearbeitet ist und dann wieder betrachtet werden kann. Für jede dieser Flächen wird mit Hilfe von Kartierschlüsseln geguckt, wie der aktuelle Zustand ist. Man hat drei Hauptbestandteile, anhand derer man den Zustand beschreibt. Das ist zum einen ein lebensraumtypisches Arteninventar, also welche Arten auf der Fläche zu finden sind, dann die Habitatsstruktur, für die ein Beispiel die Altersstruktur der vorkommenden Gehölze ist, und außerdem die Beeinträchtigung, also welche invasiven Arten es gibt oder Einflüsse durch den Menschen, etwa Landwirtschaft oder Düngung, was die Flächen stark verändert. Manchmal trifft man auf Schilder, die ein Landschaftsschutzgebiet oder Naturschutzgebiet kennzeichnen.

Sind das genau die Flächen, von denen Du sprichst?

Nein, was uns vor allem beschäftigt, sind die sogenannten Fauna-Flora-Habitat-Gebiete, kurz FFH-Gebiete. Die werden nicht so offensichtlich kommuniziert, aber manchmal gibt es auch Informationstafeln. In FFH-Gebieten sind mehrere Einzelflächen bestimmter Lebensraumtypen zusammengefasst. So findet man beispielsweise in manchen FFH-Gebieten viele Moore, in anderen trockene Heiden, mit denen ich mich gerade besonders befasse.

Wie verbreitet sind denn FFH-Flächen?

Ungefähr 15 Prozent der Fläche Deutschlands sind FFHGebiete. Die meisten Länder stellen solche Informationen als open data zur Verfügung, da kann man nach den FFH-Gebieten in der eigenen Stadt oder dem eigenen Bundesland suchen. Hier in Dresden sind zum Beispiel die Elbwiesen ein Teil davon, das ist dann doch sehr greifbar.

Was ist Deine Aufgabe als Referentin an der BfUL?

Ich arbeite für das Bundesprojekt „Copernikus leuchtet grün“. Darin geht es um Fernerkundung, also um die Beobachtung der Erde in indirekter Weise, beispielsweise über Satelliten oder mittels Flugzeug- und Drohnenbefliegungen. Meistens sind das bildgebende Verfahren. In dem Projekt wollen wir neue Werkzeuge für die Auswertung von Fernerkundungsdaten bauen, um damit den Umweltämtern das Monitoring zu erleichtern. Solche Daten können dichtere Informationen liefern als die Begehungen alle sechs oder zwölf Jahre und auch zusätzliche Informationen zu dem, was wir innerhalb einer Besichtigung erkennen können.

Wie könnte so ein Werkzeug aussehen?

Ein klassisches Beispiel, mit dem wir im Projekt schon am weitesten sind, ist eine Mahd-Detektion. Das bedeutet, man will von Wiesenflächen wissen, wann und wie oft sie im Jahr gemäht werden, und dadurch herausfinden, ob eine Wiese extensiv oder intensiv genutzt wird. Auf einer extensiv genutzten Wiese kommen mehr Arten vor und können sich dort erhalten. Eine solche Wiese ist daher ökologisch wertvoller als intensiv genutzte Wiesen, die regelmäßig gemäht und gedüngt werden. Die Idee ist, dass man mit den Satellitendaten, die ungefähr alle fünf Tage etwa an derselben Stelle entstehen, eine kontinuierliche Beobachtung hat und dadurch ableiten kann, wann auf einer bestimmten Fläche eine Mahd stattgefunden haben könnte. Ein solches Werkzeug soll dann über eine Webseite angeboten werden. Dort kann man Flächen eingeben und als Ergebnis wird ausgegeben, welche der Flächen oft gemäht wurden und welche selten. Daran können dann die Naturschutz-Monitoring-Beauftragten entscheiden, welche Flächen für sie interessant sind.

Wie wird berechnet, ob gemäht wurde oder nicht?

Die optischen Satellitendaten, mit denen wir dabei arbeiten, kann man sich vorstellen wie ein Foto. Fotokameras nehmen in den drei Spektralbereichen Rot, Grün und Blau auf. Satelliten nehmen zusätzlich aber auch noch in Bereichen auf, die wir mit den Augen nicht sehen können, zum Beispiel den Infrarotbereich. Pflanzen haben die Eigenschaft, dass sie im Infrarotbereich stark reflektieren. Einen Anstieg im Infrarotbereich kann man daher benutzen um einzuschätzen, ob es viel Vegetation gibt. Je mehr Biomasse es gibt, desto krasser ist dieser Anstieg. Der Index, der aus diesen Reflexionen abgeleitet ist und dem man bei Vegetationsanalysen mit Satellitendaten häufig begegnet, heißt normalized difference vegetation index.

Verstehe ich es richtig, dass Du solche Metriken zur Auswertung von Satellitendaten entwickelst?

Nein, so etwas passiert eher in der Forschung. Das Ziel unseres Projektes ist es, die Methoden, die in wissenschaftlichen Publikationen beschrieben werden, zu nutzen und in ein anwendungsfreundliches, niederschwelliges Werkzeug zu überführen, das die Umweltämter nutzen können. Wir setzen also die Theorie in die Praxis um.

Hast Du dabei manchmal direkt oder indirekt mit Mathematik zu tun?

Ein mathematischer Hintergrund hilft auf jeden Fall, die Methoden zu verstehen und die Ergebnisse einschätzen zu können. Ich denke, die Mathematik ist gut dafür, ein breites Verständnis zu entwickeln. Außerdem programmiere ich inzwischen mehr und mehr, und ich finde, solche logischen Algorithmen zu basteln, ist auch Mathematik. In dem Sinne werde ich sie jetzt wieder mehr brauchen.

Welchen Tätigkeiten gehst Du in Deinem Arbeitsalltag außerdem nach?

Das ist über die verschiedenen Phasen des Projekts hinweg ziemlich abwechslungsreich. Zu Beginn gab es viel Projektorganisation und Datenakquise. Wir mussten erstmal überlegen, welche Daten wir als Trainingsdaten benötigen oder als Datengrundlage für die Tests, die wir mit den bestehenden Methoden machen wollen, welche Referenzdaten wir brauchen und woher wir diese bekommen. Ein großer Teil der Arbeit ist momentan auch die Rücksprache mit meiner Kollegin im Fachbereich, die mit mir ihr ökologisches Fachwissen teilt. In dem Bundesprojekt, in dem ich angestellt bin, arbeite ich mit Partnern von anderen Ämtern zusammen und bin sozusagen die Schnittstelle zwischen Fernerkundung und der Anwendung in der Ökologie, die bei uns an der BfUL als alltägliche Arbeit stattfindet. Da leiste ich so eine Art Übersetzungsarbeit zwischen den Fachbereichen.

Hast Du eine Lieblingsbeschäftigung?

Die ist das Programmieren, würde ich sagen. Ich arbeite mich da gerade erst ein, weil ich das noch nicht so viel gemacht habe, aber das mag ich am liebsten. Das ist wie Knobeln und kleine Rätsel zu lösen.

Da kommt die Mathematikerin durch! Du hast gerade von Trainingsdaten gesprochen. Arbeitet ihr auch mit Künstlicher Intelligenz?

Das war immer mal wieder die Frage, aber geplant ist es nicht. Wir haben noch nicht genügend Daten, um KIAnwendungen zu trainieren.

Was sind Herausforderungen und vielleicht Schwierigkeiten, auf die Du in Deinem Arbeitsalltag triffst?

Ich habe das Gefühl, dass es sehr viele neue Herausforderungen gibt. Ich arbeite in einem Feld, das sehr interdisziplinär ist, und da komme ich immer wieder an meine Grenzen und merke, dass ich mich selbst weiterbilden muss. Zum Beispiel hatte ich vorher noch nie mit der Plattform GitHub gearbeitet, auf der wir unseren Code teilen, und musste mich dort erstmal einarbeiten. Zum Thema Ökologie gibt mir meine Kollegin vor Ort immer wieder Input, und in die Programmierung musste ich mich auch einarbeiten. Ich muss also vieles lernen, das ich als Werkzeug für meine Arbeit brauche.

Wie eignest Du Dir diese neue Sachen an?

Meistens gibt es Einführungen im Projekt, in denen jemand sein Wissen teilt. Vieles läuft auch autodidaktisch, besonders wenn es ums Programmieren geht. Hier bekomme ich aber Tipps aus dem Projekt zu hilfreichen Tutorials oder Plattformen. Als Grundlage habe ich allerdings tatsächlich das Fortbildungs-Angebot meines Arbeitgebers genutzt.

Du hast einen Bachelor in Mathematik an der Uni Tübingen gemacht und anschließend einen Master „Umweltsysteme und Ressourcenmanagement“ an der Uni Osnabrück angeschlossen. Wie kamst Du denn von der Mathematik auf diesen Masterstudiengang?

Ich hatte ein starkes Bedürfnis nach Anwendung, ich wollte sehen, was man in der Welt da draußen mit Mathe anstellen kann. Das Thema Umwelt war mir schon immer wichtig, und dann habe ich diese Möglichkeit in einem Studienführer entdeckt, wo die Umwelt schon mit im Namen steckte und man auf Mathe aufbauen konnte. Das war genau das Richtige für mich.

Hatte der Master einen mathematischen Anteil?

Der Master hatte einen Mathe-Anteil, einen Informatik-Anteil und den Bezug zu einem Anwendungsfeld, also Chemie, Biologie oder auch Ökonomie. Meine Kommilitonen waren aus verschiedenen Fachrichtungen bunt zusammengewürfelt. Je nachdem, wo man herkam, hatte man den Schwerpunkt weniger auf dem, was man schon gelernt hatte, was bei mir die Mathematik war. Ich habe also mehr in Richtung Informatik gemacht und mir ein Anwendungsfeld gesucht.

Mit welchen Themen hast Du Dich im Rahmen Deines Masters beschäftigt?

Es ging viel um Modellierung, wobei ich mich vor allem auf dem Feld der regelbasierten und der gleichungsbasierten Modellierung bewegt habe. Die regelbasierte Modellierung geht mehr in Richtung Informatik. Ein klassisches Beispiel ist das Game of Life, in dem man ein Gitter hat, auf dem Zellen leben, für die man bestimmte Regeln festlegt, wie sie sich im nächsten Zeitschritt verändern. Wenn etwa eine Zelle drei benachbarte Fresszellen hat, dann stirbt sie im nächsten Zeitschritt. Die gleichungsbasierte Modellierung geht mehr in Richtung Mathematik. Hier beschreibt man etwa Populationsdynamiken oder Schadstoffgehalte anhand von Differenzialgleichungen. Klassisch sind zum Beispiel Räuber-Beute-Modelle, die Entwicklung von Erregern oder Fischpopulationen und wie man nachhaltig fischen kann.

Das klingt ja durchaus noch mathematisch.Warum hast Du Dich denn nach der Schule für ein Mathestudium entschieden?

Ich mochte Mathe natürlich und mich hat fasziniert, dass in der Mathematik so vieles so klar ist und man Dinge nicht ausdiskutieren muss, sondern man einfach etwas beweisen kann und dann sind sich alle einig. Das fand ich irgendwie schön. Ich habe mir auch vorgestellt, dass es eine große Herausforderung wird, und es war spannend für mich, so etwas Anspruchsvolles zu machen.

Inhaltlich knüpfst Du bei Deiner heutigen Arbeit sicher vor allem an den Master an. Inwiefern ist der Mathe-Bachelor vielleicht trotzdem der Grundpfeiler für Deine berufliche Laufbahn?

Ohne diese verschiedenen Schritte, dass ich zunächst Mathe studiert habe und dann in Richtung Umweltsystemmodellierung ging und darüber in den Bereich Fernerkundung und Satellitenbildanalyse, wäre ich nicht dahin gekommen, wo ich am Ende gelandet bin. Jeder Schritt hat sich aus dem vorherigen ergeben und in dem Sinne war der Mathe-Bachelor eine Grundvoraussetzung. Für mein weiteres Studium und auch die Masterarbeit, die ich am Geoforschungszentrum in Potsdam geschrieben habe, hat es mir immer geholfen, wie mein Denken im Mathestudium geschult worden ist. Ich habe gemerkt, dass mir das vieles erleichtert hat.

Weißt Du, ob Dein mathematischer Hintergrund auch für Deinen Arbeitgeber ein ausschlaggebender Punkt für Deine Einstellung war?

Ich vermute, dass da eher die Kenntnisse in Ökologie, Satellitenbildanalyse und Fernerkundung wichtig waren und die Mathematik weniger entscheidend. Es gibt aber noch einen anderen Mathematiker bei uns im Bereich Vogelschutz, mit dem ich allerdings noch nicht gesprochen habe.

Du hast also tatsächlich einen Kollegen aus der Mathematik. Wie kamst Du auf Deinen jetzigen Arbeitgeber beziehungsweise auf Deine Stelle?

Als die Projektstelle genehmigt wurde, hat mein Arbeitgeber die Werbetrommel gerührt. Ich habe über den Email-Verteiler des Instituts, an dem ich meine Masterarbeit geschrieben habe, davon erfahren und direkt gedacht, das klingt gut.

SatellitenaufnahmeSatellitenaufnahme der Gohrischheide (Sachsen)während einem Brand im Sommer 2022. Die Falschfarbenbilder der Satellitenmission Sentinel-2 zeigen vitale Biomasse in leuchtenden Rottönen, vegetationslose Flächen sind dunkel. Bildquelle: Sentinel Hub (www.sentinel-hub.com)

 

Wie erlebst Du es, in einer Behörde im öffentlichen Dienst zu arbeiten?

Die BfUL ist eine Einrichtung, die dem sächsischen Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie als Messbetrieb zuarbeitet. Diese Struktur gibt es so nicht in anderen Bundesländern. Die BfUL ist ein mit circa 250 Angestellten recht kleiner, eigenständiger Betrieb, sodass bei uns alles schneller als in größeren Behörden geht, wenn es etwa um vertragliche Angelegenheiten oder ITProbleme geht, und das fühlt sich agil an. Außerdem wird sehr darauf geachtet, dass es den Mitarbeitenden gut geht, es gibt Arbeitsschutzbelehrungen und Führungsfeedbacks und es geht auch darum, dass man ein gutes Arbeitsklima hat. Ich habe das Gefühl, ich werde ernst genommen und man kommt mir mit meinen Bedürfnissen entgegen. Nur beim Thema Homeoffice würde ich mir persönlich noch mehr Flexibilität wünschen.

Fühlst Du Dich heute als Mathematikerin?

Ich glaube, dafür bin ich schon ein bisschen zu lange aus der Mathematik raus und in anderen Themen drin. Wenn mir heute Begriffe begegnen, die ich im Studium ganz natürlich verwendet habe, dann muss ich schon überlegen, was das nochmal war. Das verliert sich alles so. Aber was macht eine Mathematikerin aus? In gewisser Weise habe ich die Denkmuster schon sehr verinnerlicht. Also ein Teil von mir ist noch Mathematikerin.

Was würdest Du rückblickend jemandem mitgeben, der gerade im Mathestudium steckt oder kurz davor steht?

Ich dachte am Anfang, mit Mathe hat man bei Versicherungen oder Banken sicherlich einen Fuß in der Tür. Es gibt aber total viele weitere Nischen, in denen man arbeiten kann und vielleicht auch in Richtung der eigenen Interessen, auch wenn man erstmal denkt, die haben gar nicht so viel mit Mathematik zu tun.


Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Kari Küster.
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