Praktikable Antworten finden auf komplexe Fragestellungen, das ist es, wofür Birgit Heydenreich ihr Wissen und ihre Erfahrungen als promovierte Mathematikerin mit dem Spezialgebiet kombinatorische Optimierung einsetzen will. Seit 2009 entwirft sie für ProRail, den Betreiber des niederländischen Schienennetzes mit Sitz in Utrecht, Fahrpläne für die Zukunft. Für ihren Arbeitgeber sind sie die Grundlage, um den Bau neuer Brücken, Gleise oder Tunnel rechtzeitig planen zu können. Mit Mathematik hat das nicht mehr viel zu tun, mit logischem Denken und dem Bauen von Modellen dafür umso mehr.

HeydenreichBirgit Heydenreich. Foto: Privat

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Mathematik zu studieren?

Während meiner Schulzeit in Berlin war ich lange kein besonderer Mathematik-Fan. Das hat sich erst in der 12. Klasse geändert. Bis dahin war Mathe in erster Linie Rechnen, und da konnte man sich auch verrechnen, das hat mir nicht gefallen. Später, in der Oberstufe, ging es darum in Konzepten zu denken und Methoden anzuwenden, das mochte ich.

Sie haben dann direkt nach dem Abitur mit dem Mathematikstudium begonnen?

Ja, 1998 habe ich angefangen an der Technischen Universität Berlin Wirtschaftsmathematik zu studieren. Das war ein reguläres Mathematikstudium, mit Wirtschaft und Informatik als Nebenfächer.

Für die Promotion sind Sie 2004 von der TU Berlin an die Universität Maastricht in den Niederlanden gewechselt. Warum?

Das lag an meinem Promotionsthema. Schon während des Studiums hatte ich mich auf kombinatorische Optimierung und Algorithmen auf Netzwerken spezialisiert und wollte für meine Doktorarbeit Scheduling Algorithmen untersuchen. Das ist das Spezialgebiet meiner damaligen Betreuer an der Universität Maastricht.

Haben Sie für Ihre Dissertation eine anwendungsorientierte Fragestellung bearbeitet?

Nicht direkt, aber die Motivation für meine Dissertation war eine Fragestellung aus der Praxis. Nämlich die Frage, wie sich der Einsatz einer Maschine optimieren lässt, die für verschiedene Aufträge unterschiedlicher Dauer eingesetzt wird. Gleichzeitig sollte für die Einsatzentscheidung mit bedacht werden, dass Nutzer über „privates Wissen“ verfügen – zum Beispiel die Dauer des Einsatzes –, das bei den Nutzern abgefragt wird und für die Einsatzplanung relevant ist. Die Nutzer müssen ihr Wissen natürlich nicht preisgeben, sondern können es zu ihrem eigenen Vorteil manipulieren. Um das zu vermeiden, müssen die Regeln der Einsatzplanung gut formuliert werden: Die „Mitspieler“ sollen den größten Nutzen haben, wenn sie ihren Bedarf wahrheitsgemäß anmelden. Die Bildung solcher Regeln wird auch als Mechanism Design bezeichnet, ein Teilgebiet der Spieltheorie. Kombinatorische Optimierung habe ich für meine Arbeit mit der Spieltheorie verknüpft.

Inwieweit hat diese Fragestellung mit Ihrer heutigen Tätigkeit zu tun?

Ich arbeite bei ProRail zwar mit Software, die auf Algorithmen der kombinatorischen Optimierung aufbaut. Und wenn ich diese Software bediene, ist es von Vorteil, dass ich verstehe, was im Hintergrund abläuft. Ansonsten haben meine Aufgaben hier nichts mehr mit meinem Dissertationsthema zu tun. Ich löse keine mathematischen Probleme. Aber das Erstellen von Fahrplänen und das Abbilden einer komplexen Wirklichkeit in Modellen würde ich schon als mathematisches Puzzle bezeichnen. Ansonsten kommt es bei meiner Arbeit vor allem darauf an, sich möglichst schnell in neue, komplexe Themen einzuarbeiten.

Wie sind Sie als Mathematikerin zur Eisenbahn gekommen?

Ich habe mir ganz gezielt die Bahn ausgesucht, denn ich wollte meine Fachkenntnisse für etwas einsetzen, was mir selbst wichtig ist. Die Gewinnoptimierung einer Versicherung oder einer Bank liegt mir weniger am Herzen. Nach der Promotion habe ich auch Gespräche mit einem Beratungsunternehmen im Gesundheitswesen geführt. Die suchten Mathematiker, um die Nutzung von Operationssälen zu optimieren. Das hätte mir auch gefallen.

Worin besteht genau Ihre Aufgabe bei ProRail?

Ein Beispiel: Die staatliche Eisenbahngesellschaft Nederlandse Spoorwegen will in Zukunft auf bestimmten Strecken mehr Züge fahren lassen. Diese Anfrage nehmen unsere Projektmanger entgegen und koordinieren die Bearbeitung. Die Aufgabe von uns Mathematikern ist es dann, einen Fahrplan zu erstellen, der alle Züge und alle Abfahrtszeiten unter Berücksichtigung dieses zusätzlichen Bedarfs umfasst. Das Ergebnis unserer Arbeit ist ein Bericht, der erläutert, was möglich ist und was nicht. Und was möglich ist, wenn in neue Infrastruktur investiert wird und zum Beispiel neue Weichen oder neue Tunnel gebaut werden. Auf dieser Grundlage wird dann entschieden, welche Investitionen getätigt werden und welche nicht.

Mit wem arbeiten Sie dafür zusammen?

In unserer Abteilung Transportanalyse und Kapazitätsentwicklung gibt es sieben MathematikerInnen und ÖkonometrikerInnen, die mit den Projektmanagern zusammenarbeiten. Aber wir sprechen auch sehr viel mit Ingenieuren, denn wir müssen die technischen und physikalischen Vorgänge in unsere Modelle einbauen. Zum Beispiel soll das bestehende Signalsystem für den Schienenverkehr in Zukunft durch ein einheitliches Europäisches Steuerungssystem ersetzt werden. Unsere Aufgabe ist es herauszufinden, wie sich die neue Technik auf die Kapazitäten auswirkt. Durch das neue Steuerungssystem werden sich die Folgezeiten zwischen zwei Zügen ändern. Die neuen Parameter und Prinzipien bauen wir in unsere Modelle ein, dafür wiederum müssen wir zusammen mit den Programmierern die Software anpassen. Außerdem diskutieren wir die Ergebnisse unserer Studien mit den Kunden. Das können die niederländischen Eisenbahngesellschaften sein, das Verkehrsministerium oder die Provinzregierungen.

Welchen Teil dieser Aufgaben übernehmen Sie besonders gerne?

Mathematisch ist wahrscheinlich die Frage am Anfang am interessantesten: Wie viele Detailinformationen müssen wir in unser Modell einbauen, damit zuverlässige Berechnungen möglich sind? Mir macht aber auch die Endphase Spaß. Dann, wenn die verschiedenen Informationen sortiert werden und ein Gesamtbild entsteht.

Ist Mathematik für Sie in erster Linie Beruf – oder auch Berufung?

Von Berufung würde ich nicht sprechen, aber mir gefällt diese Art zu arbeiten sehr. Auf jeden Fall bedeutet mein Beruf für mich viel mehr als nur Geld zu verdienen.

Wie gelingt jungen Mathematikerinnen und Mathematikern der Einstieg in diese Branche?

Die Schlüsselqualifikation sehe ich darin, dass man sich in komplexen Wirklichkeiten zurechtfinden und in Modellen denken kann. Das lernt man im Mathematikstudium auf jeden Fall. Deswegen kann ich gar nicht zu einer bestimmten Richtung innerhalb des Mathematikstudiums raten. Was aber ganz wichtig ist: Kommunikationsfähigkeit. Die muss man in einem Unternehmen erst mal unter Beweis stellen, wenn man direkt von der Universität kommt. Gut kommunizieren zu können, das traut man promovierten Mathematikern nicht automatisch zu.

 

Das Gespräch führte Kristina Vaillant,
freie Journalistin in Berlin.
www.vaillant-texte.de