Die beiden promovierten Mathematiker Thomas Hauptvogel und Udo Riese haben sich an der Universität Tübingen viele Jahre mit Problemen der Reinen Mathematik beschäftigt. Heute arbeiten sie in leitender Funktion in der Versicherungsbranche. Dort haben sie noch immer viel mit Zahlen zu tun, im Mittelpunkt steht aber deren wirtschaftliche Bewertung. Thomas Hauptvogel ist in Stuttgart als Referatsleiter im Aktuariat der Allianz Deutschland AG, Bereich Lebensversicherung, tätig. Udo Riese sorgt im Münchener Tochterunternehmen Allianz Investment Management SE (AIM SE) dafür, dass das Geld der Allianz-Kunden gut angelegt ist. Die Kapitalanlagen der Allianz-Unternehmensgruppe sind über die ganze Welt verteilt und betragen rund 530 Mrd. Euro.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Mathematik zu studieren?
Thomas Hauptvogel: Mir lag Mathematik einfach. Deshalb hatte ich in der Schule Leistungskurs Mathe und Physik. Zunächst habe ich aber Sprachwissenschaften studiert, erst später bin ich ins Fach Mathematik gewechselt, weil ich gesehen habe, wie spannend die Aufgabenstellungen an der Uni im Vergleich zur Schulmathematik waren. Nach dem Diplom an der Uni Tübingen habe ich dort im Jahr 2000 mit einem Thema aus Algebra und Gruppentheorie promoviert.
Udo Riese: Bei mir war es ähnlich. Ich hatte zwar auch in der Schule schon Mathematik als Leistungskurs, neben Chemie. Studieren wollte ich aber Biochemie. An der Uni in Tübingen habe ich dann festgestellt, dass man für dieses Fach sehr viele Semesterwochenstunden absolvieren muss, ich glaube es waren 38. Bei Mathematik reichten 18. Das versprach etwas mehr Freiheit, das war mir lieber. Nach dem Abschluss in Mathematik habe ich 1995 promoviert und mich fünf Jahre später noch habilitiert.
Nach zehn Jahren akademischer Laufbahn sind Sie 2003 in die Wirtschaft gegangen. Warum dieser Wechsel?
Udo Riese: Nach der Habilitation habe ich sogar noch einige Jahre als Privatdozent an der Uni Tübingen gearbeitet. Ich habe mich mit der Darstellungstheorie endlicher Gruppen beschäftigt, also mit Reiner Mathematik. Mit Finanzmathematik hatte das gar nichts zu tun. Es war einfach so, dass ich irgendwann von der Uni weg wollte. Dass es dann die Versicherungsbranche geworden ist, das war Zufall. Damals, Anfang der 2000er Jahre, hatte man als Mathematiker auf dem Arbeitsmarkt nicht die große Auswahl. Es gab eine offene Stelle bei der Allianz, darauf habe ich mich beworben. Und bei der Allianz bin ich geblieben.
Herr Hauptvogel, Sie haben sich direkt nach Ihrer Promotion für einen Job in der Wirtschaft entschieden.
Thomas Hauptvogel: Ja, nach den abstrakten Fragen, mit denen ich mich für meine Dissertation beschäftigt hatte, wollte ich möglichst schnell in die Anwendung reinkommen. Und die Finanzwirtschaft als Arbeitsgebiet fand ich wesentlich interessanter als ingenieurwissenschaftliche Aufgaben. Ich habe 2001 zunächst bei einer der großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften angefangen und dort die Rechnungslegung von Versicherungsunternehmen geprüft. Dabei konnte ich in kurzer Zeit Einblick in viele Bereiche der Versicherungsmathematik bekommen.
Wie viel hat Ihr Beruf noch mit Mathematik zu tun?
Udo Riese: Das, was ich heute in meinem Beruf an mathematischem Wissen benötige, beschränkt sich auf statistische Verfahren und Wahrscheinlichkeitstheorie auf einem Niveau, das man sich heute schon im Bachelor- Studium aneignet. Als Direktor der Abteilung Risk & Monitoring bei der Allianz-Tochter AIM SE erfülle ich hauptsächlich Management-Aufgaben.
Was genau „managen“ Sie?
Udo Riese: Das Vermögen der Allianz-Gruppe, das wir verwalten, ist weltweit in verschiedene Kapitalanlagen investiert. Wir arbeiten also in einem sehr internationalen Setting. Das Geld legen wir aber nicht selbst an, das übernehmen Asset-Manager. Wir strukturieren das Gesamtportfolio im Hinblick auf unsere Verbindlichkeiten, die wir durch die Versicherungsverträge unserer Kunden haben, und hinsichtlich der aufsichtsrechtlichen Anforderungen in den jeweiligen Ländern. Ein Beispiel: Das umfangreichste Portfolio, das wir betreuen, ist die deutsche Lebensversicherung der Allianz mit ca. 180 Milliarden Euro an Kapitalanlagen. Dafür vergeben wir fünfzig bis siebzig Mandate, das heißt, wir beauftragen Asset-Manager auf der ganzen Welt, die das Geld für uns anlegen.
Kommunizieren ist also ein wichtiger Aspekt Ihrer Arbeit.
Udo Riese: Um die Kapitalanlagedaten und die Risiken bei diesen Prozessen international zu koordinieren, telefoniere ich sehr viel, das macht bestimmt die Hälfte meiner Arbeitszeit aus. Die andere Hälfte geht in die Recherchen und Bewertungen der weltweiten finanzwirtschaftlichen Entwicklung und deren Auswirkungen auf die von uns betreuten Portfolios. Wir versuchen uns Monat für Monat einen genauen Überblick über unsere Geldanlagen zu verschaffen. Dafür müssen wir sehr viele Informationen aus verschiedenen Quellen zusammenbringen und dann eine Strategie abstimmen. Dabei geht es zum Beispiel um Entscheidungen wie die, ob es momentan sinnvoll ist, spanische Staatsanleihen zu halten.
Im Aktuariat nimmt die Mathematik sicher einen größeren Raum ein.
Thomas Hauptvogel: Ja, als Referatsleiter im Aktuariat liegen meine Aufgaben etwa zu fünfzig Prozent im operativen Bereich. Das heißt, meine sechs Mitarbeiter und ich – allesamt Mathematiker – berechnen auf Grundlage von zugelieferten Zahlen regelmäßig aktuelle Werte für den Jahresabschluss und für die drei Quartalsabschlüsse. Außer der Bilanz und den Quartalsergebnissen wird jeweils auch eine Unternehmensbewertung auf Basis aktueller Kapitalmarktdaten berechnet. Der Fachbegriff dafür lautet „Embedded Value“. Diesen Wert zu berechnen ist die zentrale Aufgabe meines Referats. Bei der Berechnung werden stochastische Projektionen durchgeführt, die auf finanzmathematischen Theorien beruhen. Dafür verwenden wir komplexe Computermodelle. Die Berechnungen und Analysen dauern jedes Mal ungefähr drei Wochen. Zwischendurch sorgen wir dafür, dass unsere Methoden und Modelle immer auf dem neuesten Stand sind. Anpassungen sind zum Beispiel notwendig, wenn die Allianz ein neues Produkt auf den Markt bringt oder sich die aufsichtsrechtlichen Regelungen ändern.
Und die übrigen fünfzig Prozent ihrer Arbeitszeit?
Thomas Hauptvogel: Die andere Hälfte meiner Tätigkeit hat mit meiner Funktion als Referatsleiter zu tun. Ich kümmere mich um die Weiterentwicklung meines Teams, also die Förderung meiner Mitarbeiter und die Einarbeitung neuer Kollegen. Hinzu kommen weitere Management-Aufgaben, die wiederum mit den Zahlen zu tun haben. Wir müssen sie an unterschiedlichste Stellen im Unternehmen kommunizieren. Und je nach Empfänger müssen sie passend erklärt und inhaltlich eingeordnet werden. Hinzu kommt die Teilnahme an Diskussionen, in denen es um die Unternehmenssteuerung geht, die zum Teil auch auf unseren Zahlen basiert.
In den letzten zehn Jahren hat sich ein vielfältiger Arbeitsmarkt für Mathematiker aufgetan. Da scheint die Finanz- und Versicherungswirtschaft als klassisches Berufsfeld für Mathematiker nicht mehr so attraktiv zu sein. Haben Sie Schwierigkeiten Nachwuchs zu finden?
Thomas Hauptvogel: Die Versicherungsbranche ist sehr groß in Deutschland, und ja, Aktuare sind sehr gesuchte Fachleute.
Was macht den Beruf des Aktuars aus?
Thomas Hauptvogel: Sie kalkulieren Produkte, bewerten zukünftige Leistungsverpflichtungen und schätzen Risiken ein. Zu den mathematischen Anforderungen kommen die wirtschaftlichen und betrieblichen Zusammenhänge hinzu. Wie funktioniert die Finanzwirtschaft, wie ein Versicherungsunternehmen? Da ist es hilfreich, wenn man Vorbildung mitbringt. Aber ich bin mir sicher, jeder gute Mathematiker kann sich in diese Themen einarbeiten. Wir fördern auch die berufsbegleitende Ausbildung zum Aktuar. Auf der anderen Seite ist es so, dass die Allianz wirklich ein interessantes Umfeld bietet. Man arbeitet ähnlich wie an der Uni im Team an der Lösung von Problemen und ist dabei sehr nah an den aktuellen Entwicklungen der Wirtschaft und des Finanzmarktes. Und seit der Finanzkrise hat das Risikomanagement enorm an Bedeutung gewonnen.
Udo Riese: Auch wir haben teilweise Schwierigkeiten gute Leute zu finden. An unserem Münchener Standort mit etwa sechzig Mitarbeitern sind etwa die Hälfte Wirtschaftswissenschaftler und nur etwa zwanzig Prozent Mathematiker. Aus meiner Sicht könnten es mehr sein, aber es bewerben sich zu wenige Mathematiker.
Woran liegt das?
Udo Riese: Ich glaube Mathematiker lassen sich von den Job-Beschreibungen in den Stellenangeboten abschrecken. Die erscheinen ihnen zu weit weg von den Inhalten des Studiums. Dabei bin ich mir sicher, dass sich Mathematiker innerhalb von einem Vierteljahr einarbeiten können. Jeder und jede, die ein Mathematik-Studium absolviert hat, bringt die Kompetenzen mit, die man in unserer Branche braucht. Nämlich die Fähigkeit, Probleme zu strukturieren, analytisch zu denken und vor allem: sorgfältig zu arbeiten. Und dann ist es ganz egal, ob sich jemand im Studium auf Differentialgleichungen oder Geometrie spezialisiert hat.
Welche Bedeutung hat der Beruf des Mathematikers für Sie – Beruf oder Berufung?
Udo Riese: Für mich ist die Mathematik ein verlässlicher Background für meine Arbeit. Ich glaube, dass ich sehr oft auf Dinge zurückgreife, die ich an der Uni gelernt habe, auch wenn mir das in dem Moment nicht bewusst ist. Thomas Hauptvogel: Für mich ist Mathematik die Art und Weise, an Probleme heranzugehen. Das hat mich schon im Studium gereizt, und an dieser Herangehensweise hat sich auch im Beruf nichts geändert.
Das Gespräch führte Kristina Vaillant,
freie Journalistin in Berlin.
www.vaillant-texte.de